Magie und Schicksal - 2
folge ihm, obwohl er mich nicht darum gebeten hat.
Er greift nach der Holzleiter und schiebt sie zu einem weiteren Regal. Ich schaue nach oben und sehe, dass die Leiter in einer Schiene läuft, die den ganzen Raum umfasst, sodass die Leiter zu jedem beliebigen Regal geschoben werden kann. Ich habe solche Vorrichtungen natürlich schon früher gesehen, allerdings noch nie in einer privaten Bibliothek. Ich bin beeindruckt.
»Wissen Sie, was es bedeutet?«, fragt Dimitri quer durch den Raum, aber Victor gibt keine Antwort. Er hat all seine Sinne auf die eine Sache gerichtet.
Plötzlich hält er die Leiter an und steigt hinauf. Ich frage mich, ob seine unzähligen Ängste ihn daran hindern werden, das Regalbrett zu erreichen, das er im Auge hat, aber nichts in seinen Bewegungen spricht von Unsicherheit; flink und sicher klettert er die Sprossen hinauf.
Kurz unter der Zimmerdecke hält er an und greift in ein Regalfach. Seine Finger streicheln über die Buchrücken. Endlich halten sie inne und verharren auf einem Buch, das – von meinem Standort aus betrachtet – genauso aussieht wie die anderen. Er aber scheint es zu erkennen und drückt es an seine Brust, während er die Leiter hinuntersteigt. Als er den Boden erreicht, atmet er tief ein und aus.
»Also«, sagt er und richtet sich zu seiner vollen Höhe auf. »Schauen wir mal nach. Wenn ich mich recht entsinne, werden wir die Antwort hier drin finden.«
7
A ber er irrt sich. Wir warten, während Victor das Buch durchblättert, erst schnell, dann immer langsamer, weil er die Worte genauer betrachtet. Und doch kann er diejenigen, die wir suchen, nicht finden. Nachdem er die gleiche Prozedur mit einigen anderen Büchern wiederholt hat, schlägt irgendwo im Haus eine Uhr, und wir erkennen widerstrebend, dass es Zeit ist, nach London zurückzukehren. Wir sind der Lösung des Rätsels nur unwesentlich nähergekommen.
Der Unglaube steht Victor ins Gesicht geschrieben, als wir uns verabschieden. Er ist es nicht gewohnt, dass seine Nachforschungen im Sande verlaufen, und er verspricht uns, seine Suche weiterzuführen und uns umgehend zu benachrichtigen, falls er etwas findet.
Schweigend fahren wir zurück nach London. Die Sonne hängt tief am Himmel, versteckt sich hinter den Wolken, die die Landschaft beschweren. Selbst Mr Wigans Begeisterung ist verflogen, und ich bin erleichtert, als wir ihn und
Madame Berrier vor ihrem Haus absetzen, dessen heruntergekommene Fassade noch mehr auf unsere Stimmung drückt.
»Es tut mir leid, Lia«, sagt Dimitri. Die Kutsche rumpelt durch die Straßen in Richtung Milthorpe Manor. »Ich weiß, welch große Hoffnungen du in diesen Nachmittag gelegt hast, besonders, nachdem es Madame Berrier und Mr Wigan waren, zu denen Arthur dich geschickt hat.«
Ich seufze. »Es wird gut werden.« Meine Worte klingen weniger überzeugend, als ich gehofft hatte, und ich schaue Dimitri ins Gesicht. »Es wird doch gut werden, oder nicht?«
Ich verabscheue mich dafür, dass ich tatsächlich Zweifel an dem guten Ausgang unserer Aufgabe hege. Dass ich fürchte, wir werden niemals die Antworten finden, die wir brauchen, um das Tor zu schließen. Dass Alice und die Seelen obsiegen und die Welt in Dunkelheit beherrschen werden.
»Lia.« Dimitri nimmt meine Hand. Die Antwort liegt in seinen Augen, aber er spricht sie trotzdem aus. »Du hast Lady Abigails Schlangenstein. Er wird dich während unserer Suche vor Unheil bewahren, und wir werden weitersuchen, bis wir die Antworten gefunden haben. Darauf gebe ich dir mein Wort.«
Ich bringe ein beruhigendes Lächeln zustande, während ich gleichzeitig seine Falschheit in meinem Herzen spüre. Ich sage ihm nicht, dass der Schlangenstein mit jedem Tag, der vergeht, kälter wird. Ich sage ihm nicht, dass die Gemeinschaft
zwischen Sonia, Luisa und mir zerbrechlich geworden ist und wir uns womöglich ganz entzweien, ehe wir die Prophezeiung beenden können. Helenes Ankunft am morgigen Tag bedeutet eine weitere Belastung für den Zusammenhalt der Schlüssel und des Engels des Chaos.
Und ich verrate ihm auch nicht meine größte Angst: dass mein Widerstand jeden Tag schwächer wird. Dass ich mir selbst mehr zum Feind werde, als Alice es je sein könnte.
Dimitri kehrt in sein Quartier in den Räumlichkeiten der Gesellschaft zurück, und ich fahre nach Hause, wobei ich mir überlege, ob sich Luisa und Sonia zu dieser späten Stunde Sorgen um mich machen. Die Dunkelheit hat den letzten Rest Tageslicht
Weitere Kostenlose Bücher