Magie und Schicksal - 2
ausgelöscht. Mein Versprechen, rechtzeitig zum Tee zu Hause zu sein, um mit meinen Gefährtinnen Helenes Ankunft zu besprechen, habe ich nicht halten können.
Aber ich hätte mir keine Gedanken machen müssen. Luisa und Sonia haben sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Das Haus ist still, bis auf das Ticken der großen Standuhr in der Eingangshalle und die leisen, gedämpften Geräuschen der Dienstboten in der Küche.
Die Abwesenheit meiner Freundinnen wirkt wie eine Anklage auf mich. Ich lasse mich auf dem Sofa neben dem Feuer nieder. Ich habe noch keine Lust, in mein Zimmer zu gehen und mich schlafen zu legen. Im Schlaf liegt keine Ruhe. Stattdessen widme ich mich – wieder einmal – den Rätseln der Prophezeiung, gehe sie in Gedanken noch einmal
durch: der letzte Schlüssel, das Versteck des Steins, den genauen Wortlaut des Rituals, mit dem die Prophezeiung zu einem guten Ende gebracht werden kann – falls ich zuerst die Antworten auf alles andere finde. Wie ein sanfter Wind ziehen die Fragen durch mein Unterbewusstsein. Es ist nicht einmal unangenehm, und ich lasse mich von meinen Gedanken dorthin tragen, wohin sie mich führen, in der Gewissheit, dass manchmal die Antworten dort auftauchen, wo man sie am wenigsten erwartet.
Ein leises Klopfen, das vom Eingang her kommt, reißt mich aus meiner Träumerei. Ich stehe auf, blicke zur Eingangshalle und frage mich, ob ich mir das Geräusch nur eingebildet habe. Niemand sonst scheint etwas gehört zu haben. Ich will mich schon wieder hinsetzen, als ich es erneut höre. Diesmal gibt es keinen Zweifel: Es hat geklopft.
Und zwar an der Haustür.
Ich warte eine Weile, aber auch diesmal scheint niemand sonst das Klopfen gehört zu haben. Die Dienstboten machen sich immer noch im Haus zu schaffen, aber keiner geht zur Tür. Als ich schließlich selbst gehe, empfinde ich fast eine Art Erleichterung. Irgendwie weiß ich, dass dieser Besuch mir allein gilt.
Nach unten blickend, sehe ich mein eigenes Spiegelbild verzerrt in dem großen, bronzenen Türknauf. Ich lasse mich nicht zu einem Zögern hinreißen, sondern öffne die Tür mit einem Ruck. Aus irgendeinem Grund habe ich niemand anderen als Alice erwartet.
Die kalte Luft, die ins Haus dringt, nehme ich kaum wahr. Es vergehen ein paar Sekunden, ehe Alice spricht.
»Guten Abend, Lia.« Sie zögert. »Es tut mir leid, dass ich dich so spät noch störe. Ich hoffte, du würdest noch wach sein, sodass wir unter vier Augen miteinander sprechen können.«
Ich suche in ihrem Antlitz, kann aber weder Bosheit, noch Feindseligkeit erkennen. Außerdem bin ich, wenn ich mit den Schwingen reise oder von meinen Träumen heimgesucht werde, viel verwundbarer als mit einem guten halben Dutzend Dienstboten und Edmund im Rücken.
Ich trete zurück und öffne die Tür weit. »Komm herein.«
Mit zögernden Schritten geht sie ins Haus und schaut sich um, während ich die Tür schließe.
»Ich kann mich an dieses Haus kaum noch erinnern«, murmelt sie. »Ich glaube, wir waren als Kinder einmal mit Mutter und Vater hier, aber nichts davon ist mir vertraut. «
Ich nicke langsam. »So war es für mich auch, als ich hier ankam. Vermutlich waren wir noch zu klein.«
Sie zieht ihre Handschuhe aus. »Ja, du hast sicher recht.« »Wo wohnst du hier in London?« Ich könnte mir auf die Zunge beißen. Die Frage ist zu vertraulich. Schließlich habe ich Alice nicht zum Tee eingeladen.
Aber sie scheint es nicht zu bemerken. »Wir haben uns im Savoy einquartiert. Ich wusste ja, dass ich hier nicht willkommen wäre.«
Wir stehen reglos da und betrachten einander, bis ich
mir lächerlich vorkomme. Zwischen uns stehen Welten, aber Alice ist immer noch meine Schwester.
»Gehen wir in den Salon«, schlage ich vor. Ich gehe durch die Eingangshalle, ohne nachzusehen, ob sie mir folgt, aber ich kann ihre Augen auf meinem Rücken spüren.
In dem warmen Raum, in dem ein Feuer im Kamin brennt, setze ich mich auf einen Sessel und überlasse Alice das Sofa, auf dem ich mich noch vor wenigen Minuten meinen Träumereien hingegeben habe. Sie blickt sich auch hier interessiert um; vielleicht vergleicht sie den Raum mit dem Salon in Birchwood.
»Was ist los, Alice?« Meine Worte klingen selbst für meine Ohren überraschend sanft. Sie sind fragend, ohne die Anklage zu artikulieren, die tief in meinem Herzen lauert. »Warum bist du hier?«
Sie holt tief Atem und betrachtet ihre Hände, ehe sie antwortet. »Du bist meine Schwester, Lia. Meine
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