Magie und Schicksal - 2
sehen.«
Ich folge ihr hinaus in die Eingangshalle. Eine Hand auf dem Türknauf, wendet sie sich noch einmal um.
»Es war nie einfach, weißt du?«
»Was denn?«, frage ich, obwohl es mich eigentlich nicht interessiert. Ich will nur, dass sie geht.
Ein schmerzvoller Ausdruck zuckt über ihr Gesicht.
Dann senkt sich wieder der Schleier aus Feindseligkeit darüber. »Die Bewunderung in den Augen aller zu sehen, wenn sie über dich sprachen. Die Gewissheit, dass unser Vater, James, ja sogar unsere Mutter dich vorzogen. Ist es so schwer zu glauben, dass James deinen Verlust überwunden hat? Dass er mich wirklich und wahrhaftig liebt? Dass vielleicht – nur dieses eine Mal – nicht du am meisten geliebt wirst?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß nicht, wovon du redest, Alice. Seit unserer Geburt stand ich in deinem Schatten. James’ Liebe war eines der wenigen Dinge, die ich für mich allein hatte.« Ich höre die Trauer in meiner Stimme. Alice war immer die Auserwählte.
Die schöne, lebensfrohe Alice.
Ihr Lächeln schenkt mir weder Wärme, noch Trost. »Du bist so stur, Lia. Und so unfähig, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, wenn es dir nicht passt. Wie konnte ich nur glauben, dass sich etwas ändern würde? Das wird niemals passieren.«
»Nein. Du hast recht, Alice. Das wird niemals passieren. Nicht, wenn die Prophezeiung und meine Rolle darin berührt werden. Nicht, wenn das Schicksal jener, die ich liebe, betroffen ist.«
Das Lächeln auf ihren Lippen jagt mir einen Schauer über den Rücken. Es ist das Lächeln, das ich von unseren Begegnungen in den Anderswelten her kenne, dasjenige, das von der Vertrautheit zwischen Alice und den Seelen spricht, von der Hölle, in die sie die Menschheit zu stürzen
gedenkt. »Ich bin überrascht, dass du glaubst, immer noch so selbstgerecht sein zu können, Lia. Erkennst du nicht die Wahrheit?«
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Und was für eine Wahrheit sollte das sein, Alice?«
Sie hebt die Augenbrauen, als ob die Antwort offensichtlich wäre. »Dass du nicht viel anders bist als ich. Dass du mir mit jedem Tag ein bisschen ähnlicher wirst.«
Sie zieht die Tür auf, schlüpft hindurch und schließt sie hinter sich wieder.
Ich stehe noch eine geraume Weile da, starre die Tür an und denke an meine Schwester, an James und an die Prophezeiung. An das undurchsichtige Netz, in dem wir alle gefangen sind.
Als ich mich schließlich wieder umdrehe und die Treppe zu meinem Zimmer hinaufgehe, versuche ich, nur noch an James zu denken und daran, was ich zu ihm sagen werde. Ich versuche, mich auf sein Schicksal zu konzentrieren und auf die Frage, wie ich ihn retten kann. Aber mir schwirren Alices letzte Worte im Kopf herum, drehen sich im Kreis und hallen in meinen Gedanken wider, bis ich mir nicht mehr sicher bin, ob es ihre sind oder meine eigenen.
Ich schlafe nicht gut. Meine Träume sind erfüllt von dunklen Gestalten und von einem Flüstern, das seinen Ursprung in meinen Gedanken zu haben scheint.
Ich lasse mich in einer Art Halbschlaf dahintreiben, während mein Bewusstsein sich immer noch mit der Frage
nach dem Versteck des Steins beschäftigt. Ich sehe Victor vor mir, wie er mit seiner Leiter an den Bücherregalen entlangrollt, während Dimitri unter ihm steht und ein Buch durchblättert. Kurz bevor ich erwache, fühle ich, wie mir die Lösung unseres Problems entgleitet.
Und dann, als ich mich mit einem Ruck im Bett aufsetze, habe ich sie.
8
T u mir den Gefallen und erkläre mir die Sache noch mal.«
Müde reibt sich Dimitri über das Gesicht und unterdrückt ein Gähnen. Die Kutsche saust in Windeseile durch das sanfte Licht des frühen Morgens.
Aufgeregt nehme ich seine Hand. »Aber verstehst du denn nicht? Wir haben die Sache ganz falsch angepackt!« Ich beiße mir auf die Unterlippe und zögere. »Das heißt, ich glaube, dass wir es falsch angepackt haben. Sicher werden wir es erst dann wissen, wenn wir mit Victor gesprochen haben.«
Dimitri seufzt. »Ja, das hast du schon gesagt, aber mir ist nicht ganz klar, was genau wir falsch angepackt haben. Zu dem Teil bist du noch nicht gekommen.«
»Wir haben Victor und Mr Wigan nach den Worten von der letzten Seite der Prophezeiung gefragt.«
Er nickt. »Genau. Und zwar deshalb, weil wir wissen wollen, was sie bedeuten. Aber das erklärt nicht, warum
wir zu dieser unmöglichen Stunde an Victors Tür klopfen wollen.«
Ich strecke die Hand aus. »Hast du die Liste dabei?«
»Ja,
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