Magie und Schicksal - 2
Last zu befreien, dann muss es eben sein.«
Tante Virginia nickt verständnisvoll. Vielleicht denkt sie an meine Mutter und ihren Kampf gegen die Seelen – einen Kampf, den sie verlor. »Und waren Sie überrascht, als Philip vor Ihrer Tür stand?«, will sie wissen. »Als er Ihnen von der Prophezeiung erzählte?«
Helene starrt auf ihren Teller, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das Essen darauf nicht sieht. In ihrer Stimme liegt ein Erinnern. »Ich war schon immer anders. Es war nicht nur das Zeichen. Solange ich denken kann, habe ich die Stimmen jener auf der anderen Seite gehört. Sie sprachen zu mir, obwohl ich sie anflehte, damit aufzuhören. Und auch das war noch nicht alles. Selbst als Kind hatte ich schon diese Träume, in denen ich fliege. Ich wusste, dass man normalerweise keine Dinge aus Träumen mitbringt, aber ich tat es oft – einen Stein, eine Feder, einen Grashalm.« Sie zuckte die Schultern. »Sie lagen morgens in meinem Bett, und da wusste ich, dass meine Träume Wirklichkeit waren.«
Das flackernde Kerzenlicht und Helenes Stimme mit ihrem singenden Akzent lullen mich ein; ich falle in eine leichte Trance.
»Aber es dauerte nicht lang, da ängstigte ich mich vor ihnen. In meinen Träumen wurde ich gejagt; ich brachte nichts mehr mit, aber stattdessen hatte ich blutige Füße oder Prellungen, die ich mir bei der wilden Flucht vor etwas Düsterem und Schrecklichem zuzog.« Sie schweigt kurz. »Ich vertraute mich nur meinen Eltern an, die bereits ahnten, dass etwas nicht stimmte. Schließlich wussten
sie von dem Mal und von den merkwürdigen Dingen, die mir seit frühester Kindheit an widerfahren waren.«
»Hatten sie Verständnis für deine Andersartigkeit?« Ich höre den Schmerz in Sonias Stimme; ihre eigenen Eltern waren nicht bereit gewesen, ihre übernatürlichen Gaben zu akzeptieren.
Helene nickt. »So gut sie eben für so etwas Verständnis aufbringen konnten. Aber es ist nicht genug.« Sie schaut uns an, eine nach der anderen. »Ich bin fast achtzehn. Und trotzdem darf ich mich nicht verlieben, darf mich nicht sorglos in der Gesellschaft anderer junger Frauen bewegen, muss ständig auf jedes Wort achten. Wer könnte eine solche Monstrosität akzeptieren? Und wie sollte ich sie auch nur annähernd erklären?«
Ich denke an James. Ich kann sie nur zu gut verstehen.
»Hier in London gibt es Menschen«, sagt Luisa sanft. »Menschen, die so sind wie wir. Du musst nicht einsam sein.«
Helenes Stimme hat ihre Unnahbarkeit verloren. »Es ist nett von dir, dass du versuchst, mich zu trösten. Dass du mir deine Freundschaft anbietest. Aber ein solches Leben will ich nicht. Ich will keine Außenseiterin sein. Ich will nicht im Abseits stehen. Ich will diese Sache nur zu Ende bringen, damit ich nach Spanien zurückkehren und ein normales Leben führen kann.«
Ich erinnere mich, dass auch ich ähnliche Wünsche hatte und glaubte, es wäre so einfach. Vor Dimitri. Vor meinem Erbe als Herrin von Altus.
Aber es spielt keine Rolle, ob unsere Träume und Wünsche einfach oder kompliziert sind, ob wir ein zurückgezogenes Leben als Ehefrau führen wollen oder als Anführerin einer Gemeinschaft im Rampenlicht stehen. Schlussendlich wollen wir alle dasselbe: leben. Leben zu unseren eigenen Bedingungen, ohne die Prophezeiung, die uns wie ein Mühlstein am Hals hängt.
10
I ch habe mich hübsch gemacht, obwohl ich mich schämen muss, es zuzugeben.
Nur Tante Virginia und Edmund wissen, was ich vorhabe. Ich wage es nicht, Dimitri einzuweihen und mir dann seine gezwungen ruhige Miene anzuschauen, hinter der sich die Sorge verbirgt.
»Soll ich Sie begleiten?«, fragt Edmund, als er mir vor dem Hotel Savoy den Wagenschlag aufhält.
Ich schüttele den Kopf. Wenn es sich um jemand anderen handeln würde, hätte er mich gar nicht gefragt, sondern würde mir um nichts in der Welt von der Seite weichen. Aber auch Edmund weiß, dass ich von James nichts zu befürchten habe.
Ich schaue an der imposanten Hausfassade entlang nach oben. »Sie können in der Lobby warten, wenn Sie möchten.«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er den Kopf schüttelt. »Ich bleibe hier bei der Kutsche, falls Sie mich brauchen. «
Ich wende mich mit einem Lächeln zu ihm. »Danke, Edmund. Es wird nicht lang dauern.«
Auf den Straßen herrscht bereits um diese Zeit reger Verkehr. Kutschen und Reiter hoch zu Ross kämpfen um jeden Zentimeter Platz, während sich Fußgänger zwischen ihnen hindurchzwängen. Doch all das
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