Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Magie und Schicksal - 2

Magie und Schicksal - 2

Titel: Magie und Schicksal - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
Vom Netzwerk:
und ich sehe, dass ich mich dem Hotel nähere, wo ich James vor zwei Wochen aufgesucht habe. Die imposante Fassade des Gebäudes ragt erleuchtet in den Nachthimmel empor, aber ich schwebe mühelos durch den Stein und fühle schließlich den dicken, weichen Teppich unter meinen Füßen. Alices Nähe ist wie ein Gedanke, der im Hintergrund an meinem Bewusstsein zupft, und ich schwebe durch die Tür in ein prächtiges Schlafzimmer.
    Ein Feuer flackert im Kamin und wirft tanzendes, orange-farbenes Licht durch den Raum. Ich kann die Hitze der Flammen mit meinem Geistkörper nicht spüren, aber ich fühle ihre Energie, und ich ahne, dass es im Raum warm ist. Ich blicke mich suchend um. Es dauert einen Moment, bis ich meine Schwester entdecke. Schließlich sehe ich sie im Schatten des Baldachins auf dem großen Himmelbett liegen. Selbst von der Tür aus, wo ich stehe, kann ich erkennen, dass ihre Schultern zittern und ihr ganzer Körper von Schluchzen geschüttelt wird.
    Dieser Anblick erschreckt mich zutiefst, denn ich kann mich nicht erinnern, Alice jemals weinen gesehen zu haben.
Nicht damals, als unsere Mutter sich von der Klippe über dem See nahe Birchwood gestürzt hat. Nicht an dem Tag, an dem der Leichnam unseres Vaters gefunden wurde, das Gesicht erstarrt zu einem stummen Schrei. Nicht einmal, als wir Henrys kleinen, zerschmetterten Körper in der kalten Erde von Birchwood Manor zur letzten Ruhe betteten.
    Ich fühle mich ihr nahe, dieser erschütterten Alice, dieser menschlichen Version meiner unmenschlich erscheinenden Schwester. Gleichzeitig erkenne ich entsetzt, dass ich kurz davor bin, in die wirkliche Welt einzutreten. Es ist tatsächlich möglich, den Schleier zwischen den Welten zu durchqueren, sodass man bei dem Reisen auf den Schwingen von anderen gesehen werden kann. Alice hat bewiesen, dass es machbar ist, obwohl sie damit das uralte Gesetz der Grigori brach. Ich könnte es ebenfalls tun, wenn ich wollte. Ich bin mittlerweile mächtig genug.
    Aber es ist eine Last, die ich nicht auf meinen Schultern wissen will. Wenn sie sich nicht selbst das Leben genommen hätte, hätte sich meine Mutter vor den Grigori für die Magie verantworten müssen, die sie verbotenerweise angewendet hatte. Alice hat, unter Anleitung der Seelen, ihre dunklen Mächte zur Perfektion gebracht und noch mehr Schande auf den Namen unserer Familie geladen. Sollte ich die Prophezeiung überleben und Herrin von Altus werden, werde ich es schwer haben, das Vertrauen der Schwesternschaft zu gewinnen. Es wäre närrisch von mir, zu allem Überfluss auch noch selbst die Gesetze der Grigori zu brechen. Außerdem bin ich zwar neugierig, habe
aber keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit Alice. Dadurch kann ich nichts gewinnen. Ich will nur den Grund für meine Unruhe erfahren; gleichzeitig bin ich froh, dass ich gerufen wurde und nicht aus eigenem Antrieb mit den Schwingen reise.
    Ich trete vorsichtig näher und bleibe ein paar Schritte vom Bett entfernt stehen. Sie hat sich auf der Seite zusammengerollt und das Gesicht in der Armbeuge vergraben. Das Bild ruft eine Erinnerung wach: Alice mit sechs Jahren, nach der Beerdigung unserer Mutter, wie sie auf dem Bett liegt, in exakt der gleichen Haltung wie jetzt, nur ohne die Tränen.
    Ich beuge mich nieder und betrachte sie genauer, spitze die Ohren, als ich inmitten ihrer Schluchzer Worte zu hören glaube. Anfangs denke ich, ich hätte es mir eingebildet, aber einen Moment später höre ich es wieder. Verstehen kann ich immer noch nichts. Ich muss an mich halten, um sie nicht zu bitten, doch lauter zu sprechen.
    Ihr glänzendes kastanienbraunes Haar ist ihr über das Gesicht gefallen. Meine Hände rühren sich ohne meinen Willen, in dem blinden Verlangen, ihr die Strähnen aus der Stirn zu streichen. In letzter Sekunde halte ich inne.
    Und dann, ganz plötzlich, werden ihre Worte deutlich, und ich verstehe, was sie sagt.
    »Er liebt mich nicht. Er hat mich nie geliebt.«
    Meine ausgestreckte Hand verharrt wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht, während sie weint und schluchzt und sich durch ihre eigenen Worte neue Qualen auferlegt.

    »Ich werde … niemals gut genug sein.« Ihre Stimme bricht. Verzweiflung sickert aus jedem Wort. »Es wird immer nur dich für ihn geben.«
    Verblüfft merke ich, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Ich blinzele und denke voller Schuldgefühle an Henry. Wenn ich die Verantwortung für mein Handeln übernehmen muss, muss Alice das ebenso tun.
    Ihr Weinen

Weitere Kostenlose Bücher