Magie
lebendig. Es ist so schwer zu akzeptieren, dass sie …
»Ich weiß, wie du dich fühlst.«
Tessia blinzelte überrascht und drehte sich um. Jayan beobachtete sie. Seine Miene war sehr ernst.
»Nur … falls du das Bedürfnis hast, darüber zu reden«, fügte er hinzu.
Dann lächelte er, und ein jäher, unerwarteter Ärger stieg in ihr hoch. Warum sollte sie ausgerechnet mit ihm über etwas reden wollen, dass so … so … Er würde nur über ihre Schwäche lachen oder sie später gegen sie verwenden. Sie war sich nicht sicher, wie. Vielleicht würde er es als eine Gefälligkeit betrachten, die sie ihm vergelten musste.
»Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle«, sagte sie. »Woher solltest du es auch wissen? Sind deine Eltern ermordet worden?«
Er zuckte zusammen, dann runzelte er die Stirn, und sie sah Ärger in seinen Augen aufblitzen. »Nein, aber meine Mutter ist gestorben, weil mein Vater nicht erlaubt hat, dass sie einen Heiler aufsuchte, und nicht für Medikamente bezahlen wollte, die sie gebraucht hätte. Zählt es auch, wenn der Vater die eigene Mutter hat sterben lassen?«
Sie starrte ihn an, und aller Ärger fiel von ihr ab. Zurück blieb nur ein unangenehmes Gefühl von Scham und Entsetzen.
»Oh.« Sie schüttelte den Kopf. »Das tut mir leid.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, besann sich dann jedoch eines Besseren. Beide wandten sie den Blick ab. Ein verlegenes Schweigen folgte, dann fragte Narvelan, ob es ihnen etwas ausmache, am Feuer zu schlafen. Alle Zelte waren besetzt, und die Magiebegabten hatten zumindest die Fähigkeit, einen Schild zu schaffen, um sich zu schützen, falls es
regnete. Dakon versicherte ihm, dass es ihnen nichts ausmachen würde.
Schon bald lag Tessia eingehüllt in Decken auf dem harten Boden, starrte zu den Sternen empor und fragte sich bitter, wie sie es geschafft hatte, dass sie sich jetzt noch schlechter fühlte als zuvor. Scham über das, was sie zu Jayan gesagt hatte, überlagerte jetzt den allgegenwärtigen Schmerz der Trauer.
Sein Vater hat seine Mutter sterben lassen, weil er keinen Heiler rufen wollte? dachte sie. Ist das der Grund, warum er es so sehr missbilligt, dass ich Heilerin werden will? Aber gewiss müsste eine solche Tragödie doch gerade die gegenteilige Wirkung haben.
Wolken trieben vor den Mond, und Dunkelheit schloss sich um die Feuer. Er hat versucht, nett zu sein. Vielleicht sollte ich ihm nicht ständig mit Argwohn begegnen. Aber wie soll ich wissen, wann er freundlich sein will? Seine Erklärung fiel ihr wieder ein, und sie verzog das Gesicht. Seine Mutter ist gestorben, und es war die Schuld seines Vaters.
Er mochte noch immer einen Vater haben, aber an jenem Tag hat er beide Eltern verloren.
20
D er Segen der Erschöpfung war, dass sie einen Schlaf mit sich brachte, aus dem Tessia trotz der Trauer, der Scham und der Furcht erst aufwachte, lange nachdem die Sonne aufgegangen war. Eine gewisse Unruhe im Lager weckte sie, und anschließend half sie Narvelans Leuten, zusammenzupacken und Vorbereitungen für den bevorstehenden Ritt zu treffen. Sie würden, wie Dakon ihr und Jayan mitgeteilt hatte, in ein Dorf in Narvelans Lehen reiten, das selbst jene, die eingeladen waren, bekanntermaßen nur unter großen Schwierigkeiten
fanden. Klein und unwichtig wie es war, erschien es sehr unwahrscheinlich, dass Takado und seine Verbündeten es als strategisches Ziel betrachten würden - falls sie überhaupt von der Existenz des Dorfes wussten -, es sei denn, sie begriffen, dass es als Versammlungsort benutzt wurde. Dort würden sich weitere Magier des Freundeskreises Narvelan, Dakon und Werrin anschließen, um ihre nächsten Schritte zu erörtern.
Sie traten die Reise am Abend nach Einbruch der Dämmerung an, wobei in regelmäßigen Abständen schattenhafte Gestalten auftauchten, um sicherzustellen, dass den Magiern auf dem vor ihnen liegenden Weg keine Gefahr drohte. Sie verhielten sich so still, wie es eine Menge alter, knarrender Karren, gehetzter Haustiere und gelegentlich unruhiger Säuglinge zuließ.
Die meisten Dorfbewohner waren Tessia fremd, aber in der Dunkelheit beschlich sie immer wieder das Gefühl, von den Bewohnern Mandryns umgeben zu sein. Das Brummen einer alten Frau, das Gelächter zweier kleiner Jungen, die den Befehl zu schweigen vergessen hatten, die strenge Ermahnung ihrer Mutter - all das erinnerte sie an die Menschen, mit denen sie aufgewachsen war. Menschen, die jetzt bis auf wenige Ausnahmen tot
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