Magie
»Danke. Ich werde Euch zu ihr führen. Und lasst jemanden Eure Tasche hinterherbringen.«
Zu Tessias Überraschung stand Jayan auf und folgte ihr. Als sie außerhalb der Hörweite der anderen Meisterschüler waren, hielt er sie am Arm fest.
»Was tust du da?«, fragte er leise. »Du bist keine Heilerin.«
Sie drehte sich um, um ihn anzustarren. »Na und? Ich werde vielleicht trotzdem helfen können.«
»Was ist, wenn Dakon nach dir ruft. Du bist jetzt eine Meisterschülerin, Tessia. Es ist nicht... nicht...«
»Nicht...?«
Er verzog das Gesicht. »Du kannst nicht einfach davonspazieren und Heilerin spielen, wann immer dir der Sinn danach steht. Es ist nicht... passend.«
Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
»Wäre es den ›passender‹, jemanden, der krank ist oder Schmerzen leidet, nicht zu behandeln oder vielleicht sogar sterben zu lassen, weil man sich darüber sorgt, was andere Meisterschüler oder ihre Meister denken könnten?«
Er erwiderte ihren Blick, und seine Miene war durchdringend und forschend. Dann ließ er die Schultern sinken.
»Also schön. Aber ich komme mit.«
Sie schluckte einen Protest hinunter, dann seufzte sie und eilte hinter dem Mann her, dessen Frau krank war. Sollte Jayan die Frau doch sehen, die er, weil er es für »passend« hielt, weiter hätte leiden lassen. Sollte er doch sehen, dass hinter der Heilkunst mehr steckte als der bloße Titel »Heiler«. Sollte er doch sehen, dass ihre Kenntnisse und Fähigkeiten wertvoll waren, und wissen, dass sie nicht vergeudet werden sollten.
Sie verzog das Gesicht. Ich hoffe, dass ich dieser Frau helfen kann, oder ich werde ihn nicht allzu sehr beeindrucken können.
Das Haus, in das der Mann sie brachte, lag am Rand des Dorfes. Ihr Führer hielt nur einmal kurz inne, um einen Jungen zu bitten, die Tasche ihres Vaters zu holen. Sobald sie im Haus waren, geleitete er sie die Treppe hinauf in ein Schlafzimmer, in dem eine Frau auf dem Bett döste.
Dass die Frau krank war, ließ sich nicht leugnen. Sie war so mager, dass die Haut auf ihren Schultern, ihrem Hals und ihrem Gesicht sich straff über ihre Knochen spannte. Ihr Mund war geöffnet, und als Tessia eintrat, wischte sie sich hastig und verlegen ein wenig Speichel vom Kinn.
Tessia trat neben das Bett und schaute lächelnd auf die Frau hinab.
»Hallo. Ich bin Tessia«, sagte sie. »Mein Vater war Heiler, und ich war während des größtenteils meines Lebens seine Gehilfin. Wir heißt du?«
»Paova«, sagte der Mann. »Das Sprechen fällt ihr schwer.«
Die Augen der Frau waren groß vor Angst, aber sie brachte ein schwaches Lächeln und ein Nicken zustande.
»Dann lass mich mal sehen«, sagte Tessia.
Die Frau öffnete den Mund. Sofort durchlief Tessia ein Schaudern mitfühlenden Entsetzens. Eine Seite ihres Mundes war zur Gänze von einem Geschwür ausgefüllt.
»Ah«, sagte Tessia. »Ich habe so etwas schon früher gesehen, wenn auch meistens bei Männern. Es tut weh, wenn du isst oder auch nur essen riechst, nicht wahr?«
Die Frau nickte.
»Kaust und rauchst du Blätter?«
Die Frau sah ihren Mann an.
»Sie hat früher Dunda gekaut, bis dieses Geschwür es unmöglich machte«, erwiderte er. »Sie kommt aus einer alten Jägerfamilie, die einige Gepflogenheiten aus den Bergen beibehalten hat.«
Tessia nickte. »Es ist schwer, von dieser Gewohnheit loszukommen, habe ich gehört. Dies nennt man ›Jägermund‹. Ich kann den Klumpen herausschneiden und die Stelle vernähen, aber du musst mir zwei Dinge versprechen.«
Die Frau nickte eifrig.
»Benutze die Mundspülung, die ich dir gebe. Sie schmeckt absolut abscheulich und trocknet dich so sehr aus, dass du schwören wirst, du würdest nie wieder einen Tropfen Speichel produzieren können, aber die Spülung wird verhindern, dass die Wunde sich entzündet.«
»Sie wird es tun«, erklärte ihr Mann lächelnd. »Ich werde dafür sorgen.«
Tessia nickte. »Und hör auf, Dunda zu kauen. Es wird dich umbringen.«
In den Augen der Frau blitzte ein Anflug von Rebellion auf, aber Tessia starrte sie mit ernster Miene an und einen Moment später war der Ausdruck aus ihren Augen verschwunden.
»Auch dafür werde ich sorgen«, sagte ihr Mann leise.
»Nun lass mich mal sehen.« Tessia tastete sanft die Innenseite des Mundes der Frau ab. Ihr Vater hatte schon früher Geschwüre wie dieses behandelt. Obwohl es ihm gewöhnlich gelungen war, die Geschwüre zu entfernen, wurden einige der Patienten krank und starben binnen
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