Magie
vielsagenden Blick.
Tessia blinzelte überrascht, dann betrachtete sie die kleine, schlanke Frau, die neben ihr saß. »Wirklich?« Sie hielt inne. »Ich dachte... ist es Frauen nicht...?«
Kendaria lachte leise. »Geld«, sagte sie. »Macht. Und die Tatsache, dass es im Grunde keine Regel und kein Gesetz gibt, das uns verbietet, uns zu Heilerinnen ausbilden zu lassen. Aber als eine solche zu arbeiten?« Sie hob die Schultern, doch in ihren Augen stand grimmige Entschlossenheit. »Das werden wir sehen, sobald wir vor dieser Hürde stehen, obwohl ich die Ausbildung nur aufgenommen habe, weil ich meine Fähigkeiten nutzen wollte, um Freunden und Verwandten zu helfen.«
Hoffnung und Verbitterung zugleich wallten in Tessia auf. Wenn ihr Vater reich und mächtig gewesen wäre, hätte sie sich dann ebenfalls ausbilden lassen können? War Kendaria die erste Frau, die der Tradition trotzte?
Die Frau beugte sich zu ihr vor. »Wenn Ihr wollt, nehme ich Euch zu einer Obduktion mit. Würde Euch das gefallen?«
Ein Schauder der Erregung durchlief Tessia. Ihr Vater hatte oft voller Wehmut beschrieben, was er während seiner wenigen Besuche der Heilergilde von Imardin bei Obduktionen gesehen und gelernt hatte. Seine Erzählungen waren sowohl beängstigend wie faszinierend gewesen, und sie hatte sich immer gefragt, ob sie in dieser Situation entweder in Ohnmacht fallen oder sich in den Mysterien des menschlichen Körpers verlieren würde, wie ihr Vater es getan hatte. Sie wollte gern glauben, dass sie nicht ohnmächtig werden würde, und wann immer sie eine eitrige Verletzung behandelt oder mit einer Leiche zu tun gehabt hatten, hatte sie sich gefragt, ob dies Prüfung genug gewesen war.
»Igitt!«, rief Zakia. »Ich weiß nicht, wie du das ertragen kannst. Wenn Ihr nicht wollt, geht nicht hin, Tessia. Niemand würde Euch einen Vorwurf machen.«
Tessia lächelte und sah Kendaria an.
»Ich würde sehr gern mitgehen.«
15
D akons Wagen hielt vor einem imposanten grauen Steingebäude, in dem die Familie Drayn seit vier Jahrhunderten lebte. Jayan seufzte und zwang sich aufzustehen. Wie immer, wenn er das Heim seiner Kindheit besuchte, stiegen gemischte Gefühle in ihm auf. Erinnerungen wurden wieder wach, an kindliche Spiele mit seinem Bruder, an Neckereien, wenn er seine jüngeren Schwestern aufgezogen hatte, an die Wärme und den Geruch seiner Mutter sowie an förmliche und zwanglose Feste. Diese Erinnerungen brachten eine wehmütige
Zuneigung mit sich, unweigerlich gefolgt von einem knochentiefen Groll und der Erinnerung an Furcht, Trauer und Verbitterung, wenn er an Strafen für Fehler dachte, die ihm zu hart erschienen, an das schreckliche Gefühl der Verlorenheit nach dem Tod seiner Mutter und an die trostlose Erkenntnis, was es bedeutete, der zweite Sohn zu sein.
Die Magie hatte ihm in mehr als einer Hinsicht einen Fluchtweg geboten. Sie hatte ihn aus einem Zuhause fortgeholt, das erdrückend und demütigend geworden war, und ihm die Mittel in die Hand gegeben, wenn nötig unabhängig vom Wohlstand seiner Familie zu sein.
Trotzdem, er war nicht dumm. Er hatte sich nicht von der Familie losgesagt. Der Charakter seines Vaters würde vielleicht niemals weicher werden, aber durch die Schwäche des Alters war dieser Charakter eine stumpfe Waffe. Die Arroganz, die sein Bruder in jungen Jahren an den Tag gelegt hatte, war mit der Reife ein wenig verblasst, vielleicht nur deshalb, weil er wusste, dass Jayan als Magier nicht der abhängige und gehorsame kleine Bruder sein würde, von dem er gedacht hatte, dass er ihn für den Rest seines Lebens herumkommandieren konnte. Vielleicht hatte er auch einfach nur gelernt, dass andere Menschen - Menschen, die er beeindrucken wollte - von seiner Bosheit abgestoßen wurden.
Der Türsteher verneigte sich und öffnete die Tür. Als Jayan eintrat, sah er sich in der Empfangshalle um. Nichts hatte sich verändert. Dieselben Bilder hingen an den Wänden. Dieselben Innenläden umrahmten die Fenster. Ein weiterer Diener begrüßte ihn und geleitete ihn durchs Haus. Jayan sog die vertrauten Bilder und Gerüche ein. Es roch wie mit altem Parfüm versetzter Staub.
Schließlich erreichten sie einen kleinen Raum im hinteren Teil des Hauses, möbliert mit zwei alten Sesseln. Dies war das Lieblingszimmer seines Vaters, ein Ort, an den er sich stets zurückgezogen hatte, um »nachzudenken«. Für kleine Kinder war dieser Raum verboten gewesen; ältere Kinder hatten hier strenge Ermahnungen und
Weitere Kostenlose Bücher