Magier von Moskau
Menschen zu retten.
Gott allein weiß, was in unserem Kollegen am letzten Abend seines Lebens vorging. Bekannt ist nur eines – bis zur letzten Minute war er mit Leib und Seele Journalist. Vorgestern rief er in der elften Stunde den Metteur des »Moskauer Kuriers«, Herrn Boshowski, an und verlangte, den Druck der nächsten Nummer noch aufzuhalten, denn er habe eine »Bombe« für die erste Kolumne.
Jetzt ist klar, was für eine »Bombe« der Verstorbene im Sinn hatte – seinen eigenen Selbstmord. Nun ja, das Finale von Shemailos Karriere geriet in der Tat effektvoll. Nur schade, daß diese grausige Neuigkeit doch nicht mehr in die Morgenausgabe des »Moskauer Kuriers« gelangte. |225| Das Schicksal erlaubte sich mit dem Journalisten einen bösen Scherz – sein Leichnam wurde erst im Morgengrauen entdeckt, als die Zeitung schon gedruckt war.
Dabei hatte der Selbstmörder für seine Verzweiflungstat einen auffälligen Ort gewählt – den Roshdestwenski-Boulevard, von wo es nur ein Katzensprung zum Trubnaja-Platz ist. Eigentlich hätte ein später Passant, ein Schutzmann oder ein Nachtkutscher den an einer Espe hängenden Leichnam bemerken müssen, zumal dieser von einer in der Nähe stehenden Gaslaterne beleuchtet wurde, doch nein, den Toten entdeckte erst ein Straßenfeger, der morgens in sechsten Stunde auf dem Boulevard das Laub zusammenkehrte.
Ruhe sanft, rastlose Seele! Wir werden das von Dir begonnene Werk zu Ende führen. Unsere Zeitung gelobt, das Deiner Hand entfallene Banner aufzunehmen und weiterzutragen. Der Dämon des Selbstmords wird von den Straßen unserer christlich gesinnten Stadt vertrieben werden. Die »Moskauer Nachrichten« werden die journalistische Aufklärung, begonnen von den Kollegen des »Kuriers«, fortsetzen. Lesen Sie unsere Publikationen.
Die Redaktion
»Moskauer Nachrichten«, 19. September (2. Oktober) 1900. Seite 1
2.
Aus dem Tagebuch von Colombina
Auserwählt!
»Seit ich im Ridikül den zweiten Zettel mit dem einzigen Wort Bald , geschrieben in den schon bekannten Buchstaben, gefunden habe, gibt es keinen Zweifel mehr: Ich bin auserwählt, auserwählt!
|226| Meine gestrigen Ergüsse aus diesem Anlaß waren lächerlich – das Gegacker eines verschreckten Huhns. Ich habe die zwei Seiten nicht einfach durchgestrichen, sondern herausgerissen. Später werde ich sie durch etwas Passenderes ersetzen.
Später?
Wann denn später, wenn geschrieben steht: bald?
Dieses kurze, klingende Wort tönt in meinem Kopf. Ich gehe wie im Traum umher und remple Passanten an, und Angst wechselt mit Freude. Das vorherrschende Gefühl jedoch ist Stolz.
Colombina ist eine andere geworden. Vielleicht ist sie nicht mehr Colombina, sondern die ersehnte und für einen gewöhnlichen Sterblichen unerreichbare Prinzessin Verheißung.
Meine sonstigen Interessen sind in den Hintergrund getreten, haben jegliche Bedeutung verloren. Jetzt habe ich ein neues Ritual, das mein Herz erbeben läßt: Wenn ich abends von Prospero heimkomme, hole ich die beiden weißen Zettel hervor, betrachte sie, küsse sie andächtig und lege sie zurück in das Schubfach. Ich werde geliebt!
Die Veränderung, die sich in mir vollzogen hat, ist so groß, daß ich mir keine Mühe gebe, sie zu verbergen. Alle im Klub wissen, daß der TOD mir Botschaften schickt, und wollen sie sehen, aber das lehne ich ab. Besonders hartnäckig ist Gendsi. Als kluger Mann weiß er, daß ich nicht phantasiere, und ist sehr beunruhigt – ich bin mir nicht sicher, ob er sich um mich sorgt oder seine materialistischen Ansichten gefährdet sieht.
Doch die heiligen Botschaften werde ich niemandem zeigen – sie gehören mir und nur mir, sie sind an mich adressiert und nur für meine Augen bestimmt.
Auf unseren Zusammenkünften bin ich jetzt die wahre Königin. Nun, wenn nicht Königin, dann doch die Favoritin |227| oder Braut des Königs. Ich bin dem Gekrönten Bräutigam anverlobt. Iphigenie und Gorgo platzen bald vor Neid, Caliban zischt vor Wut, und der Doge blickt mich mit den traurigen Augen eines geprügelten Hundes an. Er ist nicht mehr Prospero, der über die Geister der Erde und des Äthers gebietet. Er ist nicht einmal Arlecchino. Er ist genauso ein Pierrot wie das Muttersöhnchen Petja, der vor langer Zeit dem Irkutsker Dummchen mit seinen Locken und schwülstigen Versen den Kopf verdrehte.
Die Abende beim Dogen sind mein Triumph, mein Benefiz. Aber es gibt auch Momente der Schwäche. Dann übermannen mich Zweifel.
Nein, nein, an
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