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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Triumfalnaja-Straße – erst dort fand sie eine Nachtdroschke.
    Nachdem sie ein wenig verpustet und ihre Gedanken gesammelt hatte, dachte sie sich in den Sinn des Geschehens hinein. Der Sinn war einfach, klar, fürchterlich.
    Wenn Gdlewski sich nicht umgebracht hatte, sondern ermordet worden war (Masa hatte das unwiderleglich bewiesen), hatte das nur ein einziges Wesen tun können – wenn man diese Kraft als Wesen bezeichnen konnte.
    Niemand war über die Feuerleiter zum Dachkammerfenster hereingeklettert. Ins Zimmer war nicht jemand gekommen, sondern ETWAS. Das erklärte auch die ungeheuerliche,
übermenschliche
Kraft des Schlags.
    »Der
lebendige TOD
«, sagte Colombina immer wieder, den Blick der weit aufgerissenen Augen auf den gebeugten Rücken des Kutschers gerichtet.
    Das Wesen, dessen Name TOD ist, kann durch die Stadt spazieren, in die Fenster schauen, mit voller Wucht zuschlagen. Es kann lieben und hassen, es kann sich beleidigt fühlen.
    Worin die Beleidigung bestand, die Gdlewski dem TOD zugefügt hatte, war klar. Der hochmütige Junge hatte sich zum Auserwählten erklärt, wozu er kein Recht besaß, und hatte sich Zeichen ausgedacht, die es in Wirklichkeit nicht gab. Er war tatsächlich ein Usurpator, und ihn hatte das Los aller Usurpatoren ereilt.
    Die Größe des Geschehens ließ Colombina erzittern.
    Sie gab dem Kutscher, der sie gerettet hatte, zwei Rubel, obwohl der Höchstpreis für die Fahrt fünfundsiebzig Kopeken betragen hätte. Wie sie in den vierten Stock gelangte, wußte sie später nicht mehr.
    Als sie ihre lila Schürze ablegte, fiel aus der Tasche ein Viereck |217| aus festem weißem Papier. Sie hob es zerstreut auf und las ein deutsches Wort, in schönen gotischen Buchstaben geschrieben: »Liebste« .
    Sie lächelte, denn sie stellte sich vor, daß der schüchterne Rosenkranz sich endlich zu einer entschlossenen Aktion aufgerafft hatte.
    Dann entsann sie sich: Der Deutsche war den ganzen Abend kein einziges Mal in ihre Nähe gekommen, hatte ihr somit nicht das Papier zustecken können.
    Wer hatte es also geschrieben? Und warum auf deutsch?
    Im Deutschen ist DER TOD männlichen Geschlechts.
    »Nun bin ich also an der Reihe«, sagte Colombina zu ihrem Spiegelbild.
    Ihre Lippen lächelten, doch die Augen waren erschrocken aufgerissen.
    Colombina schlug ihr Tagebuch auf und versuchte, ihre Gefühle zu beschreiben.
    Mit bebender Hand trug sie ein: »Sollte ich
auserwählt
sein? Wie lustig und wie beängstigend!«

3.
Aus dem Ordner »Agentenmeldungen «
    An seine Hochwohlgeboren Oberstleutnant Bessikow (persönlich)
     
    Gnädiger Herr Wissarion Wissarionowitsch!
     
    Ich muß gestehen, Ihre Notiz, die mich am Morgen per Eilboten erreichte, hat mich ziemlich frappiert. Ich wußte |218| bereits von der Ermordung Gdlewskis, da schon vor Ihrem Botengänger einer der »Liebhaber« bei mir gewesen war, den die unwahrscheinliche Nachricht völlig aus dem Gleichgewicht geworfen hatte. Ihre Bitte, der Kriminalpolizei jede erdenkliche Hilfe zu erweisen, hat mich anfangs ungemein empört. Ich glaubte, Sie hätten jedes Gefühl für Maß verloren und wollten mich auf die Position eines kleinen Informanten aus Chitrowka herabstufen.
    Dann aber beruhigte ich mich etwas und betrachtete die Sache von der anderen Seite. Eine wahre Tragödie hat sich ereignet. Ein ganz großes, vielversprechendes Talent ist tot – vielleicht ein neuer Lermontow oder gar Puschkin, gestorben mit achtzehn Jahren, ohne einen nennenswerten Beitrag zur vaterländischen Literatur geleistet zu haben. Die wenigen markanten Gedichte werden Eingang finden in Anthologien und Sammelbände, mehr wird nicht bleiben von dem armen Jüngling. Welch sinnloser und bitterer Verlust! Wenn Gdlewski Hand an sich gelegt hätte, wie er es vorhatte, wäre das eine Tragödie gewesen, aber seine Ermordung ist schlimmer als eine Tragödie. Sie ist eine nationale Schmach. Es ist die Pflicht eines jeden Patrioten, dem die Ehre Rußlands am Herzen liegt, nach Kräften zur Aufklärung dieser schändlichen Geschichte beizutragen. Ja, ja, ich halte mich für einen wahren russischen Patrioten, es ist ja bekannt, daß gerade unter den Fremdstämmigen (wie Sie und ich) die aufrichtigsten, glühendsten Patrioten sind.
    Und ich habe beschlossen, alles in meinen Kräften Stehende zu tun, um Ihren Kollegen von der Polizei zu helfen. Ich habe die Informationen analysiert, die Sie mir über die Umstände des Verbrechens gegeben haben, und da ist mir folgendes

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