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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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aufgefallen.
    Warum sollte jemand einen Menschen töten, der ohnehin |219| vorhatte, sich in den nächsten Minuten oder Stunden umzubringen?
    Und wenn jemand aus irgendeinem Grund dennoch zum Mord entschlossen war, warum tarnte er das Verbrechen nicht als freiwilligen Tod? Niemand wäre auf die Idee gekommen, angesichts des vorhandenen Abschiedsgedichts eine Untat zu argwöhnen.
    Das erste, was einem einfällt – ein zufälliges Zusammentreffen. In der Stunde, als Gdlewski sich auf den Selbstmord vorbereitete (Sie schreiben ja, daß er in der Schublade eine geladene Pistole liegen hatte), stieg ein Räuber durchs Fenster ein, ohne von der verhängnisvollen Absicht des jungen Mannes zu wissen, und schlug ihm das Rohr über den Kopf. Ein böser Scherz des Schicksals. Sie teilen mit, daß die Polizei diese Version für die wahrscheinlichste hält, und fragen nach meiner Meinung.
    Ich weiß es nicht.
    Ich denke, es wird Sie interessieren, wie die Mitglieder des Klubs das Geschehen beurteilen. Selbstverständlich liegt die Geschichte allen schwer auf der Seele. Das überwiegende Gefühl ist Angst, eine ganz mystische Angst. Allen sitzt der Schreck in den Gliedern. Ein zufällig durchs Fenster eingestiegener Räuber wird gar nicht erwogen. Die allgemeine Meinung ist, daß Gdlewski mit seiner grenzenlosen Selbstsicherheit die Göttin erzürnt hat, worauf sie ihm den hochmütigen Kopf zertrümmerte. »Niemand soll wagen, die Ewige Braut durch Betrug an den Altar zu locken«, so drückte unser Vorsitzender diesen Gedanken aus.
    Ich bin, wie Sie wissen, Materialist und lehne es ab, an Teufelskram zu glauben. Dann schon lieber an einen zufälligen Räuber. Aber wenn es ein Räuber gewesen ist, wieso hatte er ausgerechnet ein Stück Rohr dabei? Außerdem schreiben Sie, |220| daß aus der Wohnung nichts entwendet wurde. Selbstverständlich läßt sich für alles eine Erklärung finden. Nehmen wir an, das Rohr hat er für alle Fälle mitgenommen – zur Abschreckung. Und geraubt hat er nichts, weil er über seine Tat erschrocken ist und das Weite gesucht hat. Nun, möglich ist alles.
    Übrigens weiß ich wohl, daß Sie mehr aus Höflichkeit nach meiner Meinung gefragt haben, denn in Wirklichkeit brauchen Sie ja keine Hypothesen, sondern Beobachtungen. Also bitte.
    Ich habe heute sehr aufmerksam das Verhalten aller Anwärter beobachtet. Ich sage gleich: Verdächtiges habe ich nicht gesehen, aber dafür eine verblüffende Entdeckung gemacht, die Sie gewiß interessieren wird.
    Roulette wurde heute nicht gespielt. Alle sprachen nur von Gdlewskis Tod und vom Sinn dieses Ereignisses. Selbstverständlich waren alle aufgeregt und verstört, jeder suchte den anderen zu überschreien, und unser Doge hatte Mühe, das Steuer des orientierungslosen Schiffs in der Hand zu behalten. Ich habe mich auch der Form halber geäußert, vor allem aber die Augen offengehalten. Plötzlich bemerkte ich, daß Cyrano (den ich in früheren Berichten den Langnasigen nannte) wie zufällig zu den Buchregalen trat und sie musterte, scheinbar gänzlich zerstreut, doch mir schien, daß er etwas ganz Bestimmtes suchte. Er schaute sich um, ob er beobachtet würde (was meine Neugier verstärkte), zog einen Band heraus und blätterte darin. Er blickte ins Licht, befeuchtete einen Finger, rieb am Schnitt, leckte sogar daran. Ich weiß nicht, was diese Manipulationen zu bedeuten hatten, aber mein Interesse war geweckt.
    Weiter geschah folgendes. Cyrano stellte das Buch zurück und drehte sich um. Mich verblüffte sein Gesicht, es war rosig, |221| die Augen glänzten. Scheinbar gelangweilt ging er langsam durchs Zimmer, und als er bei der Tür war, schlüpfte er hinaus in die Diele.
    Ich folgte ihm unauffällig, dachte, er würde das Haus verlassen und ich könnte ihn beschatten, sein Verhalten war schon sehr sonderbar. Aber Cyrano huschte durch den dunklen Korridor und verschwand im Kabinett. Ich ging geräuschlos hinterher und horchte an der Tür. Ins Kabinett führte auch ein anderer Weg – vom Salon durch das Eßzimmer, doch das hätte auffallen können, was Cyrano sichtlich vermeiden wollte, und mir wurde bald klar, warum. Prospero hat im Kabinett einen Telephonapparat.
    Cyrano drehte die Kurbel, nannte halblaut eine Nummer, ich habe sie mir für alle Fälle gemerkt; 38-45. Die Hand vor den Sprechtrichter haltend, sagte er: »Romuald Semjonowitsch? Ich bin’s, Lawr Shemailo. Ist die Nummer schon in Druck? Ausgezeichnet. Halten Sie sie zurück. Ich brauche eine

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