Magier von Moskau
ein Sturm in ihrer Seele tobte.
Als er sie eingeholt hatte, warf er einen Blick auf das gerötete Gesicht der Pseudo-Auserwählten. Dann brachte er das Gespräch nicht auf die Botschaften und nicht auf Calibans |233| Hysterie, sondern auf etwas ganz anderes, und seine Stimme klang nicht spöttisch wie gewöhnlich, sondern sehr ernst.
»Unsere Sitzungen erinnern immer mehr an eine Farce, aber das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Es gibt zu viele L-Leichen. Ich trotte nun schon drei Wochen in diesen absurden Klub, aber das Ergebnis ist gleich null. Nein, was sage ich! Nicht null, sondern negativ! Vor meinen Augen starben Ophelia, Loreley, Gdlewski, Cyrano. Ich konnte sie nicht retten. Und jetzt muß ich sehen, wie der schwarze Strudel Sie einsaugt!«
Ach, wenn Sie nur recht hätten, dachte Colombina wehmütig, ließ sich aber nichts anmerken. Mochte er sich echauffieren, mochte er sie umzustimmen versuchen.
Gendsi schien sich wirklich zu echauffieren – er sprach immer schneller und gestikulierte mit der behandschuhten Rechten, wenn er nicht gleich das richtige Wort fand.
»Wozu dem Tod hinterherjagen, wozu ihm die Aufgabe erleichtern? Das Leben ist eine so zerbrechliche, schutzlose K-Kostbarkeit, ihm drohen in jeder Minute Myriaden von Gefahren. Sterben müssen Sie ohnehin, dieser Kelch geht nicht an Ihnen vorüber. Aber warum den Saal verlassen, ohne das Schauspiel bis zum Ende gesehen zu haben? Womöglich wird das Stück, in dem übrigens jeder eine Hauptrolle spielt, Sie noch mit einer unerwarteten Wendung überraschen? Es wird Sie ganz sicher überraschen, und nicht nur einmal, vielleicht sogar auf ganz b-bezaubernde Weise!«
»Hören Sie, Sie japanischer Prinz Erast Petrowitsch, was wollen Sie von mir?« erwiderte Colombina auf die Predigt erbost. »Was für bezaubernde Überraschungen verheißt mir Ihr Stück? Das Finale kenne ich doch schon jetzt. Der Vorhang senkt sich so um das Jahr 1952, ich stürze beim Aussteigen aus der elektrischen Straßenbahn (oder womit man |234| in fünfzig Jahren fahren wird), breche mir den Oberschenkelhals und liege zwei Wochen oder einen Monat im Spital, bis mich schließlich eine Lungenentzündung erlöst. Natürlich wird es ein Armenspital sein, weil ich bis dahin all mein Geld ausgegeben habe und von nirgends neues bekomme. Bis zum Jahr 1952 habe ich mich in eine runzlige, grausliche Greisin von dreiundsiebzig Jahren verwandelt, die ewig eine Papirossa zwischen den Zähnen hat, von niemandem gebraucht und von der jungen Generation nicht verstanden wird. Jeden Morgen werde ich mich vom Spiegel wegdrehen, um nicht mein Gesicht sehen zu müssen. Eine Familie werde ich bei meinem Charakter nie haben. Und sollte ich doch eine haben, macht das meine Einsamkeit nur noch auswegloser. Ich danke Ihnen für die Anteilnahme. Wer sollte wollen, daß ich das alles erlebe? Gott? Aber Sie glauben ja wohl nicht an Gott, oder?«
Gendsi hörte zu und verzog schmerzlich das Gesicht. Dann antwortete er mit tiefer Überzeugung: »Nicht doch, nein! Liebe Colombina, man muß an das Leben glauben. Man muß sich ohne Angst seiner Strömung anvertrauen, denn das Leben ist unendlich weiser als wir. Es verfährt mit Ihnen ohnehin nach eigenem Gutdünken, mitunter recht hart, aber zu guter Letzt werden Sie verstehen, daß es r-recht hatte! Außer den düsteren Perspektiven, die Sie ausgemalt haben, hat das Leben auch viele wunderbare Seiten zu bieten!«
»Was für welche denn?« Colombina lachte spöttisch auf.
»Und sei es nur die von Ihnen verlachte Besonderheit, daß es unverhoffte und kostbare Geschenke macht – in jedem Alter, in jeder physischen Verfassung.«
»Was für welche?« fragte sie wieder auflachend.
»Zahllose. Den Himmel, das Gras, die Morgenluft, den |235| Nachthimmel. Die Liebe in all ihren vielfältigen Schattierungen. Und an der Neige des Lebens, wenn Sie es verdienen – innere Ruhe und Weisheit …«
Als Gendsi spürte, daß seine Worte zu wirken begannen, sprach er noch eindringlicher: »Und wenn wir schon vom Alter sprechen, wie kommen Sie darauf, das Jahr 1952 in so schrecklichen Farben zu sehen? Ich zum Beispiel bin überzeugt, daß es eine v-vortreffliche Zeit sein wird! In fünfzig Jahren wird in Rußland jeder lesen und schreiben können, und das bedeutet, die Menschen werden lernen, duldsamer miteinander umzugehen und das Schöne vom Häßlichen zu unterscheiden. Die elektrische Straßenbahn, die Sie erwähnten, wird ein ganz normales Verkehrsmittel sein.
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