Magierdämmerung 01. Für die Krone - Perplies, B: Magierdämmerung 01 Krone
zwischen allen Dingen herrschte, zu schauen, und er konnte sich stundenlang darin verlieren, feinstem Fadenwerk nachzuspüren und die Muster zu ergründen, die darin verborgen lagen. Nichtsdestoweniger konnte auch Sedgewick sich dieser Tage nicht ganz aus dem ordenspolitischen Geschehen lösen. Der Tod Albert Dunholms, eines Mannes, dem er stets den größten Respekt entgegengebracht hatte, war für ihn wie ein Schock, und er fragte sich wieder und wieder, ob auch dessen Ableben das Resultat eines Musters war, das sich in den letzten Monaten in den Reihen des Silbernen Kreises gebildet hatte, ohne dass es ihm bewusst geworden wäre.
Hinzu kam, dass das Fadenwerk ungefähr seit dem Zeitpunkt, an dem der Lordmagier gestorben war, aus dem Gleichgewicht geraten zu sein schien. Sedgewick beobachtete das wahre London seit seiner Ernennung zum Magispector vor sieben Jahren beinahe tagtäglich. Er kannte nicht nur die großen Ströme der Stadt, sondern auch die vielen kleinen Besonderheiten, das Anschwellen und das Abebben der Fadentätigkeit im Laufe eines Tages, die Ballungen im Fadenwerk an den großen Bahnstationen und auf den Marktplätzen und die vereinzelten magisch aufgeladenen Nischen, die, über ganz London verteilt, helle Fixpunkte im turbulent glitzernden Chaos der Wahrsicht darstellten.
Doch seit gestern Nacht war irgendwie alles anders. Das Fadenwerk befand sich in einer Bewegung, die Sedgewick zuvor noch nie gesehen hatte. Überall um ihn herum und so weit das Auge reichte, erwachten tote Gegenstände zu einem eigentümlichen Leben an der Schwelle zum eigenen Bewusstsein, und die Myriaden an zusätzlichen Fäden, die jene zitternd und vorsichtig tastend in die kalte Nachtluft streckten, machten es beinahe unmöglich, auf größere Entfernung überhaupt noch etwas zu erkennen. Seltsamerweise schienen diese Veränderungen nicht in dem Auftauchen neuer magischer Risse begründet. Vielmehr lag ein diffuses Flirren in der Luft, eine Art magischer Dunst, der sich, schleichend wie Nebelschwaden vom Themseufer, von irgendwoher kommend über die Stadt gelegt hatte. Einem weniger aufmerksamen Beobachter mochte dieses Phänomen in all dem Durcheinander des Fadenwerks überhaupt nicht auffallen, doch Sedgewick war die Fähigkeit, auch scheinbar Unbedeutendes zu bemerken, in den letzten sieben Jahren praktisch in Fleisch und Blut übergegangen.
Er hatte Cheltenham von dem seltsamen Flirren unterrichten wollen, aber der amtierende Erste Lordmagier war zu sehr mit der durch Dunholms Tod ausgelösten Ordenskrise beschäftigt gewesen, als dass er Zeit gehabt hätte, sich um Sedgewicks kuriose Entdeckung , wie er sie nannte, zu kümmern. Auch McGowan, die Sedgewick sonst immer ein offenes Ohr schenkte, hatte wenig Interesse an seinen aufgeregt vorgetragenen Worten gezeigt, ein Umstand, den der schmächtige Magispector besonders bedauerte, denn er hegte insgeheim eine tiefe – natürlich rein platonische – Zuneigung zu der außerordentlich adretten Magierin. Gleich doppelt zurückgewiesen, war Sedgewick nichts anderes übrig geblieben, als sich seine eigenen Gedanken zu diesen eigenartigen und zweifellos besorgniserregenden Entwicklungen zu machen.
Er war soeben zu dem Schluss gekommen, dass eine dermaßen weiträumige und gleichförmige Verteilung roher Magie eigentlich nur durch einen Riss in sehr großer Höhe irgendwo am Himmel über London zustande gekommen sein konnte, als er von einem Räuspern unterbrochen wurde. »Immer wachsam bleiben, Sedgewick«, mahnte ihn eine von freundschaftlichem Spott gefärbte Stimme zu seiner Linken.
Sedgewick schreckte aus seinen Gedanken auf und hob den Kopf. Obwohl der Mann wie er selbst im Schutz eines Fadenkokons auf dem Dach stand und somit für die Augen gewöhnlicher Menschen unsichtbar war, erkannte Sedgewick ihn sofort an seiner Aura. »Timothy Crandon«, begrüßte er seinen Besucher, einen im normalen Leben in jeder Hinsicht durchschnittlichen und unauffälligen Mittvierziger, der in den Vormittagsstunden in einem Postamt unweit des Picadilly Circus arbeitete. »Was machen Sie denn hier? Sie haben doch heute Nacht gar keinen Dienst, sondern erst morgen wieder.«
»Das ist richtig«, erwiderte Crandon, während er sich neben Sedgewick auf das kühle Steinsims setzte. Zitternd zog er seinen braunen, mit einem Pelzkragen besetzten Mantel enger um den Leib und rieb sich die in schwarzen Lederhandschuhen steckenden Hände. »Verdammt kalt heute Nacht«, stellte er fest. »Nun
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