Magierdämmerung 01. Für die Krone - Perplies, B: Magierdämmerung 01 Krone
GMT
Schottland, A’Charnaich, am Ufer des Loch Leven
Als die Uhr des einsamen kleinen Kirchturms von A’Charnaich zur halben Stunde vor Mitternacht schlug, schob Kendra die Decke zur Seite und stieg leise aus ihrem Bett. Verstohlen zog sie einen langen braunen Rock und eine Jacke über ihr Nachthemd und schlüpfte in Strümpfe und Schuhe. Anschließend holte sie einen Stoffbeutel unter dem Kleiderschrank hervor, hängte ihn sich über die Schulter und öffnete vorsichtig das Fenster ihrer Kammer. Es wäre nicht nötig gewesen, sich dermaßen zu bemühen, kein Geräusch zu machen, denn wenn sie richtig aufgepasst hatte, war Onkel Callum noch nicht aus dem Pub nach Hause zurückgekommen. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte es sie überrascht, ihn in einem Zustand anzutreffen, in dem er überhaupt noch bemerkt hätte, dass sich sein siebzehnjähriges Mündel heimlich des Nachts davonstahl. Onkel Callum trank meist mehr, als gut für ihn war.
Trotzdem blieb Kendra wachsam und darauf bedacht, keinen Lärm zu machen, während sie behände aus dem Fenster kletterte, das nach hinten, in den kleinen Kräutergarten des Dorfarztes John Callum McInnes, hinausführte. Dieses Verhalten – zur nahenden Geisterstunde durch Fenster zu klettern und geduckt durch dunkle Gärten zu schleichen – mochte alles andere als damenhaft anmuten, aber Kendra hatte sich nie sonderlich darum bemüht, wie eine Dame zu wirken. Natürlich wäre es hier oben in den Highlands, weitab von jeder Zivilisation – und selbst das sechzehn Meilen nördlich gelegene Fort Williams verdiente in Kendras Augen diese Bezeichnung kaum –, ohnehin unangebracht gewesen, Attitüden wie ein englisches Adelsfräulein an den Tag zu legen. Das Leben hier war rau und forderte von einem nicht nur, dass man anzupacken wusste, sondern auch, dass man imstande war, ohne einen galanten Ritter auszukommen, der auf einen aufpasste. Nichtsdestoweniger war sich Kendra im Klaren darüber, dass ihr Onkel – der eigentlich gar nicht ihr Onkel war, sondern nur ein Vormund – es lieber gesehen hätte, wenn ihre Umgangsformen ein bisschen gesitteter und ihre Interessen etwas weniger ausgefallen gewesen wären. Dann hätte sich vielleicht auch ein Mann aus dem Dorf oder von einem der umliegenden Höfe gefunden, der sie aus dem Haus geholt und ihn damit von dieser Bürde befreit hätte.
Kendra hätte ihren Onkel liebend gerne selbst von dieser Bürde befreit. Der »Pferdedoktor«, wie sie ihn angesichts seiner wenig zartfühlenden Art, mit seinen Patienten umzugehen, insgeheim nannte, war ihr alles andere als ein guter Ersatzvater. Er war es niemals wirklich gewesen, und warum er sie nach dem Tod ihrer Eltern, James und Ellie McKellen, bei einem Hausbrand vor zehn Jahren, überhaupt zu sich genommen hatte, war Kendra bis heute schleierhaft.
Im Grunde genommen mochte Callum Menschen gar nicht, und er schien sie nur deshalb von ihren Leiden zu kurieren, damit sie länger lebten, um sich sein Gejammer über die Ungerechtigkeit der Welt – und sein eigenes Schicksal im Besonderen – anzuhören. Er selbst hätte sich wohl gerne an der Universitätsklinik einer großen Stadt gesehen. Seine mangelnde Begabung oder vielleicht auch schlicht seine rauen Umgangsformen hatten es ihn allerdings nur zu einem Dorfarzt bringen lassen. Das war auch der Grund dafür, dass er sein Leid nun schon seit Jahren in schöner Regelmäßigkeit zur Abendstunde im Clachaig Inn zwei Meilen westlich des Dorfes im Alkohol ertränkte – so wie auch am heutigen Abend.
Leise bewegte sich Kendra durch die Wiesen hinter den niedrigen weiß getünchten Häusern, die an der einzigen Straße des Dorfes aufgereiht standen. Eine leichte Brise wehte von Westen her über das Land und brachte vom nahen Meer den Geruch von Salzwasser mit sich. A’Charnaich lag am nordwestlichen Ende des Glen Coe, eines von schroffen Bergen umgebenen Tals, das seinen Namen dem kleinen Fluss Coe verdankte, der in seiner Mitte gemächlich dahinfloss. Am nördlichen Rand des Dorfs ergoss sich der Coe in den schmalen, sich aber immerhin etwa acht Meilen lang von Westen nach Osten erstreckenden Loch Leven, einen Nebenarm des riesigen Loch Linnhe, an dessen Nordspitze Fort Williams lag. Dem Dorf vorgelagert, erhoben sich einige kleine Inseln aus dem See, und als Kind war Kendra im Sommer mit ihren Eltern ab und zu dort hinübergerudert, um ein Picknick zu machen. Es waren einige der wenigen und zugleich die schönsten
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