Magierdämmerung 01. Für die Krone - Perplies, B: Magierdämmerung 01 Krone
Erinnerungen, die Kendra an ihren Vater und ihre Mutter hatte.
Seit sie mit Onkel Callum zusammenlebte, waren schöne Erinnerungen ein rares Gut geworden. Er behandelte Kendra wie eine Art notwendiges Übel in seinem Leben. Als sie noch jünger gewesen war, hatte er zumeist über ihren Ungehorsam und ihren Mangel an Respekt ihm gegenüber geschimpft. Mittlerweile war er dazu übergegangen, ihre Tauglichkeit als Hausfrau und zukünftiges Eheweib infrage zu stellen, ohne sich allerdings zu schade zu sein, im trunkenen Zustand ihrem schlanken Mädchenkörper verstohlen lüsterne Blicke zuzuwerfen. Immerhin hatte er Anstand genug, ihr sich nicht unsittlich zu nähern. In diesem Fall wäre Kendra wahrscheinlich von einem Tag auf den anderen fortgelaufen, auch wenn sie nicht gewusst hätte, wohin sie sich hätte wenden sollen.
Denn als junge Frau allein in eine der südlichen Städte zu ziehen – nach Glasgow oder Edinburgh – stand außer Frage, auf Freunde hatte sie nie sonderlichen Wert gelegt, und folglich besaß sie keine im Dorf, und außer dem kauzigen Giles McKellen, ihrem Großvater mütterlicherseits, der in einer Hütte am Waldrand außerhalb des Dorfs lebte und mit den Menschen im Allgemeinen und allem Anschein nach Kendra im Besonderen nichts zu tun haben wollte, hatte sie auch keine lebenden Verwandten. Zumindest keine, von denen sie gewusst hätte.
Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr Los bis zu dem Tag zu ertragen, an dem sich alles ändern würde, einen Tag, von dem sie wusste, dass er irgendwann kommen würde. Er musste einfach irgendwann kommen … Bis dahin hieß es warten und heimlich der einen Sache nachgehen, die ihr etwas gab, wofür es sich zu leben lohnte.
Im Schatten zweier Häuser hielt Kendra inne und lugte auf die Straße hinaus, die am oberen Dorfende eine Kurve beschrieb und dann am Ufer des Coe das Tal hinaufstrebte, wo sich einzelne Gehöfte, Großvater Giles’ Hütte und das Clachaig Inn befanden. Sie wollte nicht von irgendeinem heimkehrenden Zecher – am wenigsten von Callum – gesehen werden. Niemand sollte mitbekommen, wie sie sich um Mitternacht in den Wald hinaufstahl, denn es gab in der kleinen Gemeinde schon genug Gerede über das eigenwillige Mündel des Arztes. »Hexe« nannten die Kinder sie, wegen ihres langen roten Haars und wegen ihrer Vorliebe, alleine durch den Wald zu streifen. Natürlich meinten sie es als Beleidigung. Wenn die wüssten , dachte Kendra. Aber sie wussten es nicht. Niemand wusste es . Darauf achtete Kendra nicht nur, weil sie zusätzliche Vorhaltungen und weiteren Nachbarschaftstratsch nicht brauchen konnte, sondern auch, weil sie ihr kleines Geheimnis und die Wunder, die es ihr bescherte, mit niemandem teilen wollte.
Die Straße war leer, und rasch huschte sie hinüber. Sie wagte es nicht, die kleine Steinbrücke zu nehmen, die über den Coe führte, denn am anderen Ufer, direkt oberhalb der Brücke, lag das Haus der alten Witwe Moncreiffe, die dem Anschein nach nichts Besseres zu tun hatte, als tagaus, tagein vom Fenster ihres Hauses das Treiben auf der Hauptstraße von A’Charnaich zu beobachten, um dann all jenen, die möglicherweise noch nichts davon wussten, brandheiß davon zu erzählen. Es ging allgemein das Wort um: Wenn man sichergehen wollte, dass sich irgendeine Neuigkeit den Loch Leven rauf und runter verbreitete, vertraute man sie am besten – und natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit – der Witwe Moncreiffe an. Jetzt, kurz vor Mitternacht, sollte auch die Alte den Schlaf der Gerechten schlafen. Aber Kendra ging lieber kein Risiko ein, und so rutschte sie stattdessen die Böschung hinab, um sich am unteren Ende rasch ihrer Schuhe und Strümpfe zu entledigen und dann barfuß und mit gerafftem Rock durch den eiskalten, aber glücklicherweise kaum mehr als knöcheltiefen Fluss zu waten.
Querfeldein erklomm Kendra die bewaldete Hügelflanke, einen sanften Ausläufer der Berge, die sich zu ihrer Rechten erhoben. Obwohl es tiefste Nacht war, benötigte sie kein Licht, denn der Himmel über ihr war sternenklar, und ein fast noch voller Mond schien hell durch die Wipfel der licht stehenden Tannen. Abgesehen davon kannte Kendra hier jeden Weg und Steg, und mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit fand sie nach einer guten halben Meile den Waldsee, der in den heißen Sommermonaten für die Kinder des Dorfes ein beliebter Platz zum Baden war, die meiste Zeit des Jahres allerdings einsam und verlassen dalag, von
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