Magierdämmerung 01. Für die Krone - Perplies, B: Magierdämmerung 01 Krone
bereits gesehen«, protestierte Kendra, die sich eine etwas praktischere erste Unterweisung erhofft hatte.
Ihr Großvater schüttelte den Kopf. »Nein, das hast du nicht. Du hast einen Teil des Ganzen erblickt, und es würde mich wundern, wenn du den schon vollends begriffen hättest. Außerdem bin ich der Lehrer, und du bist die Schülerin, also bestimme ich, was ich dir wann beibringe.«
Sie saßen auf einer Holzbank am Ufer des Loch Lomond. Tagsüber mochte die zum Gelände einer einzelnen Herberge am Ostufer des Sees gehörende Bank Anglern oder Wanderern als Rastplatz dienen, doch jetzt, nach Einbruch der Nacht, lag sie still und verlassen da. Es war kühl, und hauchzarte weiße Schwaden hingen flüchtig wie die Geister längst Verstorbener über der dunklen, spiegelglatten Wasseroberfläche. Im wenige Dutzend Schritt entfernten Haus brannten noch Lichter, und Gelächter drang durch eine angelehnte Tür leise nach draußen. Aber die Zecher blieben, wo sie waren, und störten Kendra und ihren Großvater nicht.
Bis zum Schwinden des letzten Lichts waren die beiden mit der altersschwachen Kutsche des Gastwirts von Bridge of Orchy in Richtung Süden gefahren. Gut die Hälfte der Wegstrecke nach Glasgow hatte schließlich hinter ihnen gelegen, als sie sich entschlossen hatten, über Nacht irgendwo einzukehren, um ihrem Pferd eine Pause und sich selbst ein paar Stunden Schlaf zu gönnen, bevor sie im Morgengrauen wieder aufbrechen mussten. Doch Kendra war ruhelos gewesen, und so hatte sie ihren Großvater überredet, ihr vor dem Zubettgehen unten am See noch eine erste Unterweisung in die Geheimnisse der Magie zu geben.
»Niemand weiß genau«, begann Giles, »woher die Magie kommt. Manche glauben, dass sie aus der Tiefe der Erde zu uns heraufdringt, wie flüssiges Gestein, das aus Vulkanspalten quillt. Andere halten sie für eine unirdische Energieform aus einem Universum, das neben dem unsrigen besteht und in dem alle Naturgesetze, wie wir sie kennen, aufgehoben sind. Das Chaos regiert dort, und durch feine Risse zwischen den beiden Universen sickert es immer wieder in unsere Wirklichkeit ein – was wir dann als Magie wahrnehmen. Und wieder andere sind der Ansicht, dass alles Leben auf der Erde, als Ganzes vereint, eine Art Aura der Magie hervorbringt, die zeitgleich mit dem Erwachen des Lebens entstand und seitdem unsichtbar immer und überall um uns herum existiert. Begründet wird dies mit der Beobachtung, dass die glitzernden Ströme, die du ja schon kennst, an jedem Ort der Erde fließen und in einem Wald oder in einer Stadt das Fadennetzwerk dichter ist als auf dem Gipfel eines kargen Berges.« Er schüttelte den Kopf.
»Du bist anderer Meinung?«, fragte Kendra.
»Ja, das bin ich«, bestätigte Giles. »Die Fäden und Ströme, die unsereins wahrzunehmen vermag, die Normalsterblichen aber verborgen bleiben, sind nicht magisch, zumindest nicht im normalen Wortsinne. Wären sie es, müssten wir jeden Baum, jeden Strauch, jede Straßenlaterne und jeden Spazierstock als magisch verstehen. Das sind sie nicht.« Er hob eine Hand und schmunzelte. »Oh, es gibt sicher den einen oder anderen magischen Baum und sogar Spazierstock, aber das zu erklären führt jetzt zu weit. Es genügt zu sagen, dass sie gemeinhin nicht magisch sind.« Seine Miene wurde wieder ernst. »Nein, die Fäden und Ströme sind nichts weiter als die Verbindungen, die zwischen allen Dingen bestehen, sichtbar und greifbar gemacht durch die besondere Gabe der Magieanwender.«
»Verbindungen?«, fragte Kendra stirnrunzelnd.
Statt einer Antwort richtete Giles McKellen seinen Blick auf den Mond, der hell und voll über dem Loch Lomond hing. »Was siehst du, wenn du den Mond anschaust?«
Kendra zuckte mit den Schultern. »Eine kleine weiße Scheibe mit einem Gesicht darauf?«
Ihr Großvater neigte den Kopf. »Und jetzt wechsele in die Wahrsicht.«
»In die was ?«
»Beschwöre vor deinem inneren Auge die glitzernden Fäden und Ströme herauf.« Giles sah sie erwartungsvoll an.
Unbehaglich rutschte Kendra auf der Bank hin und her. »Das … das kann ich nicht so einfach.«
»Du hast es am Waldsee gekonnt, oder nicht?«
»Ja, aber ich brauche ein Ritual dafür und … noch andere Dinge.« Es widerstrebte ihr, ihrem Großvater zu verraten, dass sie Laudanum nahm. Er hätte es sicher nicht gutgeheißen.
»Unsinn!«, sagte dieser. »Entweder ist die Gabe, die Fäden der Dinge zu sehen und zu verändern, in dir, oder sie ist es nicht. Es
Weitere Kostenlose Bücher