Magierdämmerung 02 - Gegen die Zeit

Wissen Sie nicht, dass es die Wahrheit ist? Hassen Sie Wellington denn nicht und wünschen sich, all seine hochtrabenden Pläne mögen scheitern? Ich kann das möglich machen. Ich kann und werde ihn zu Fall bringen, wenn Sie uns hier herausholen, und koste es mein Leben! Der letzte Halbsatz war ihm im Eifer des Gefechts herausgerutscht, aber er hoffte einfach, dass es nicht so weit kommen würde.
    Glücklicherweise schienen seine Worte sie zu beeindrucken, denn Melissa wirkte beinahe überzeugt. Versprechen Sie es? , fragte sie.
    Bei meiner Ehre! , rief Holmes. Er hielt kurz inne und wurde rot, als ihm klar wurde, dass das kein sonderlich glorreicher Schwur war. Sie wissen schon, wie es gemeint ist , fügte er etwas kleinlauter hinzu.
    Melissas leises Lachen hallte durch seinen Geist. Doch sie wurde umgehend wieder ernst. Eine Bedingung habe ich.
    Welche ?, fragte Holmes.
    Nehmen Sie mich mit.
    Der Wunsch traf ihn nicht völlig überraschend, aber er brachte ihn dennoch in Verlegenheit. Das würde ich gerne, glauben Sie mir. Aber wie soll ich das anstellen?
    Tun Sie nicht so unwissend! , fuhr die junge Frau ihn an. Ich weiß, dass Sie ein Bewusstsein übertragen können.
    Holmes seufzte innerlich. Sie hatte diese leidvolle Nacht in Venedig also genauso wenig vergessen wie er selbst. Melissa, das ist nicht so einfach , sagte er, obwohl es ihn Überwindung kostete, so aufrichtig mit ihr zu sein. Ich vermag, mit viel Mühe, die Erfahrungen eines Menschen auf einen anderen zu übertragen. Doch wie Sie wissen, stirbt dabei der Mensch selbst. Ich kann keine intakte Seele, oder wie immer Sie es nennen mögen, nehmen und in einen anderen Körper stecken – schon gar nicht, wenn sie Teil eines so machtvollen Gruppenbewusstseins wie des der Nautilus ist.
    Sie haben es ja noch gar nicht versucht! , hielt sie ihm entgegen.
    Und ich will es auch nicht , sagte er. Es würde höchstwahrscheinlich Ihr Leben kosten. Wollen Sie das? Wollen Sie bei einem wahnwitzigen Experiment den letzten Rest Leben, der Ihnen geblieben ist, verlieren?
    Die Magierin schwieg, und das war Antwort genug. Sie war noch nicht bereit, aufzugeben und den Tod dieser Form des Halbdaseins vorzuziehen.
    Es tut mir wirklich leid, Melissa. Aber ich kann Ihnen nur Rache bieten, keine Erlösung. Vielleicht ergibt sich eine Möglichkeit, sobald wir die Wahre Quelle erreicht haben. Aber um diese Möglichkeit ergreifen zu können, müssen wir Wellington zuerst unschädlich machen. Und dazu müssen Mister Brown und ich von diesem Boot herunter.
    Melissa sprach noch eine ganze Weile lang kein weiteres Wort. Holmes spürte, dass in ihrem Bewusstsein ein Sturm widerstreitender Gefühle toste, aber er wusste, dass jeder weitere Versuch, sie zu beeinflussen, verschwendet gewesen wäre. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die richtige Entscheidung treffen würde. Und er sollte recht behalten. Ich werde Ihnen helfen, aber nicht jetzt , verkündete die Magierin. Es ist heller Tag draußen, und überall in der Nautilus laufen Magier herum. Warten Sie noch bis zum Einbruch der Nacht. Dann komme ich und lasse Sie frei. Alles Weitere ist dann eine Frage Ihres Geschicks.
    Ich danke Ihnen , sagte Holmes erleichtert.
    In ihrer Stimme lag Bitterkeit, als sie antwortete: Danken Sie nicht mir, danken Sie Victor. In seiner grenzenlosen Gier nach Macht hat er vergessen, wie gefährlich der Zorn einer enttäuschten Frau sein kann. Nun soll er ihn zu spüren bekommen.
    23. April 1897, 14:03 Uhr GMT
England, London, Soho Street
    Bislang war alles beinahe zu einfach gewesen. Sie hatten sich in aller Frühe zum Finsbury Square begeben und sich dort bis zu dem Mietshaus, in dem Jonathan Kentham lebte, durchgefragt. Anschließend hatte Carlyle die ältliche Hauswirtin, die sich als Misses Fincher vorgestellt hatte, unter dem Vorwand einer polizeilichen Ermittlung dazu überredet, ihm das Zimmer von Kentham zu zeigen, während er, Whitby, den beiden, in einen Unsichtbarkeitszauber gehüllt, nachgegangen war. Kaum dass Carlyle und die Hauswirtin wieder nach unten verschwunden waren, hatte Whitby sich einige abgetragen wirkende Kleidungsstücke und einen Füllfederhalter von Kentham geschnappt, hatte sie eingepackt und war durch das rückwärtige Fenster verschwunden, wo Crandon und die beiden Waliser mit der Kutsche gewartet hatten.
    Danach waren sie zu Whitbys Wohnung in der Soho Street gefahren, wobei sie auf dem Weg den Franzosen aufgelesen und ihn davon in Kenntnis gesetzt hatten, dass sie