Magierdämmerung 02 - Gegen die Zeit
einen schnell das Leben kosten mochte, wenn man zu lange in ihrer Nähe blieb und nicht furchtbar aufpasste. Einzig Cutler hatte für einen Moment den Eindruck erweckt, als würde er mit sich ringen, aber Jonathan hatte ihn gebeten, auf die anderen achtzugeben und sie in Sicherheit zu bringen. »Sie werden in London dringender gebraucht als an unserer Seite.«
Unter zahlreichen gegenseitigen guten Wünschen waren die Magier auseinandergegangen, und die drei Männer und Kendra hatten sich im Eiltempo auf den Weg gemacht. In der Gegend des Westminster-Palastes hatte Nevermore sich zu ihnen gesellt und war auch bei ihnen geblieben, als sie London hinter sich ließen und in südwestlicher Richtung aufs Land hinausfuhren. Offenbar glaubte der Rabe, dass ihnen, wo immer auch ihr Ziel lag, früher oder später Randolph Brown begegnen würde, eine Hoffnung, die nach Kendras Meinung auch Jonathan zu hegen schien, der den Raben freudig willkommen geheißen hatte.
Wäre es nach ihrem Großvater gegangen, das wusste Kendra, wären sie ohne Unterbrechung die ganze Nacht durchgefahren. Aber Pennington, der während ihrer dreistündigen Fahrt von London nach Sunningdale zweimal nach ihm geschaut hatte, ohne dass Giles ihm erlaubt hätte, ihn anzufassen, bestand darauf, eine Rast einzulegen. »Die Wunde muss behandelt werden, ansonsten wird sie sich entzünden, oder es kommt zu einer Blutvergiftung, und das ist eine wirklich hässliche Angelegenheit«, hatte er erklärt. »Zudem sind wir meiner Ansicht nach mittlerweile weit genug von London entfernt, um für ein paar Stunden vor Verfolgung sicher zu sein.« Jonathan, der die Kutsche kurz darauf auf einer Anhöhe hatte anhalten lassen, um aufs Dach zu steigen und in die Richtung, aus der sie gekommen waren, zurückzuschauen, hatte sich dieser Meinung angeschlossen.
So machten sie in Sunningdale Station, einer kleinen Gemeinde in Berkshire, die nur aus zwei Kirchen und einigen von Bäumen umgebenen Häusern zu bestehen schien. Als sie sich der einzigen auffindbaren Herberge, einem Gasthaus mit dem klangvollen Namen The Royal Oakenshield näherten, befürchtete Kendra bereits, dass ihre vierköpfige Gruppe am nächsten Tag das alleinige Gesprächsthema der Dörfler darstellen würde. Doch der Wirt, der sich ihnen als Morstan vorstellte, erwies sich als erstaunlich pragmatisch. Obschon es beinahe Mitternacht war und sie mit einem verletzten alten Mann auf seiner Schwelle auftauchten, nahm er ohne viele Fragen ihr Geld. Als er kurz darauf erfuhr, dass Pennington in Afrika gekämpft hatte, gab er sich als Veteran des Zweiten Anglo-Afghanischen Krieges von 1878 zu erkennen, und im Nu war das Eis zwischen ihnen gebrochen.
»Ich brauche ein Zimmer, in dem ich Mister McKellen die Kugel herausnehmen kann«, sagte Jonathans Freund. »Heißes Wasser, Verbandszeug und starker Alkohol wären auch nötig.«
»Keine Sorge, Sie sollen alles bekommen, Kamerad«, versicherte der Wirt ihm und verschwand in der Küche.
»Mister Pennington, ich lasse Sie den Eingriff vornehmen«, sagte Giles. »Aber ich habe eine Bedingung: Niemand außer Ihnen darf im Raum sein, wenn Sie die Kugel entfernen.«
»Es wäre leichter, wenn mir jemand zur Hand gehen würde«, erwiderte Pennington.
»Niemand, sage ich«, beharrte Kendras Großvater.
Jonathans Freund nickte. »In Ordnung. Wie Sie wünschen.«
Nachdem Morstan die gewünschten Dinge gebracht hatte, verschwand Pennington mit Kendras Großvater in einem Hinterzimmer und machte sich ans Werk. Unterdessen stellte ihnen der Wirt noch ein kleines Nachtmahl auf einen der Tische und ging danach vor die Tür, um die Pferde abzuspannen und zu versorgen. Kendra und Jonathan blieben allein im Schankraum der Herberge zurück, in dem sich ansonsten kein einziger Gast aufhielt – offenbar ging man in Sunningdale früh zu Bett.
In erschöpftem Schweigen nahmen sie einen Happen zu sich. Anschließend blieb ihnen nichts weiter zu tun, als darauf zu warten, dass Jonathans Freund zurückkehrte. Irgendwann schien die anhaltende Stille Jonathan unangenehm zu werden, denn er räusperte sich und lächelte Kendra aufmunternd zu. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ihr Großvater wird wieder gesund.«
Bei aller Aufrichtigkeit wirkte sein freundlicher Trost ein wenig erzwungen. Kendra war klar, dass ihn selbst die Sorge um diese Elisabeth plagte, wahrscheinlich seine Verlobte, auch wenn er das so nicht gesagt hatte. Umso dankbarer war sie ihm, dass er trotzdem am Schicksal ihres
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