Magierdämmerung 02 - Gegen die Zeit
Großvaters Anteil nahm, der doch an Jonathans gegenwärtiger Gefühlslage nicht ganz unschuldig war. Daher verdiente er es auch, dass sie ihn, statt eine unverbindliche Antwort zu geben, in ihre wahren Zweifel einweihte. »Ich weiß nicht recht«, sagte sie. »Seit er das Ritual beendet hat, ist er irgendwie noch seltsamer als zu Beginn unserer Reise. Es ist, als hätte er etwas erfahren, das er so nicht erwartet hat. Und ich glaube, dass es nichts Gutes war.«
»Ihr Großvater ist ein Mann voller Geheimnisse.«
Kendra nickte. »Das war er schon immer. Ich weiß nicht, welcher Schwur ihm dieses Leben aufgebürdet hat, aber ich wünschte, er würde nicht versuchen, die ganze Last allein zu tragen.« Ihr Blick richtete sich auf die Rückwand des Schankraums, aber in Wirklichkeit reichte er weit darüber hinaus. »Am Ufer des Loch Lomond vor einigen Nächten glaubte ich, endlich zu ihm durchgedrungen zu sein. Er fing an, mir von sich und von der Magie zu erzählen. Und er versprach, mich alles zu lehren, was er weiß. Dann überschlugen sich plötzlich die Ereignisse, und wir haben kaum mehr als ein paar Sätze gesprochen. Und nun habe ich auf einmal das seltsame Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft.« Ihre Augen richteten sich wieder auf Jonathan, und gegen ihren Willen spürte sie Tränen darin aufsteigen. Es mochte Erschöpfung sein, der Preis all der letzten Tage, die voller Tod und Entbehrung und Qualen gewesen waren. Aber vielleicht steckte auch eine Vorahnung kommender Ereignisse dahinter, die sie noch nicht genau zu benennen vermochte.
Jonathan erhob sich, umrundete den Tisch und setzte sich an ihre Seite. Er legte ihr den Arm um die Schulter, und sie lehnte ihren Kopf an die seine. »Alles wird gut. Irgendwie werden wir dafür sorgen.« Und was immer auch geschieht, ich werde dich beschützen.
»Was?«, fragte Kendra und blickte überrascht auf.
Jonathan blinzelte verwirrt. »Bitte um Verzeihung?«
»Was haben Sie gesagt?«
»Ich … äh … ich sagte, alles wird gut.« Er räusperte sich. »Zumindest hoffe ich das.«
»Nein, Sie …« Kendra brach ab, als sie erkannte, dass es erneut geschehen war. Sie hatte zufällig die Gedanken eines anderen aufgefangen – Jonathans Gedanken. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg, als sie sich vergegenwärtigte, was sie da eben gehört hatte. Rasch löste sie sich aus Jonathans Arm und stand auf. »Ach, schon gut. Ich bin wohl müde. Ich denke, ich werde noch einmal nach meinem Großvater sehen und mich danach zu Bett begeben. Bitte entschuldigen Sie mich.«
Auch Jonathan erhob sich. »Ich hoffe, ich habe nichts Falsches gesagt.«
Kendra schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. »Nein, ganz und gar nicht. Es ist wirklich so, wie ich sagte. Ich bin müde. Es war ein anstrengender Tag. Gute Nacht.«
Er nickte. »Gute Nacht, Kendra.«
Kendra durchquerte den Schankraum und ließ sich von dem soeben zurückkehrenden Wirt das Hinterzimmer zeigen, in dem sich ihr Großvater und Pennington befanden. Zaghaft klopfte sie an die Tür. »Ich bin es, Kendra. Darf ich hereinkommen?«
»Einen Augenblick«, vernahm sie die Stimme von Jonathans Freund. Es dauerte eine knappe Minute, dann öffnete er die Tür. Sich die Hände noch mit einem Handtuch abtrocknend, machte er eine einladende Geste. »Treten Sie ein. Ich bin gerade fertig geworden.«
»Danke schön«, sagte Kendra und folgte der Einladung. Ihr Großvater lag auf dem einzigen Bett des Raumes, neben dem ein Tisch mit einer Schüssel voll Wasser, blutigen Tüchern und noch einigen anderen Utensilien aus Morstans Besitz stand. Hemd und Weste waren bereits wieder zugeknöpft, und sein Gesicht hatte etwas an Farbe gewonnen. »Wie geht es dir?«, fragte Kendra.
»Besser als zuvor, das muss ich zugeben«, antwortete Giles.
»Ich lasse Sie zwei dann mal allein und werde zusehen, ob Jonathan mir noch ein wenig von unserem Abendessen übrig gelassen hat«, verkündete Pennington von der Tür aus, warf das Handtuch auf den Tisch und machte sich auf den Weg in den Schankraum.
Kendras Großvater vollführte eine beiläufige Bewegung mit der linken Hand, und die Tür schloss sich. »Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte er, und ein Lächeln erschien auf seinem bärtigen Gesicht.
»Aber das versteht sich doch von selbst. Ich hätte niemals schlafen können, ohne mich zu versichern, dass alles gut gegangen ist«, antwortete Kendra. Sie setzte sich auf die Bettkante und ergriff seine faltige Hand. »Geht es
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