Magierdämmerung 02 - Gegen die Zeit
Wellington darf nicht wissen, dass wir sie gesehen haben, sonst ändert er seine Pläne womöglich, und wir können uns nicht mehr darauf vorbereiten.«
»Gut. Dann los!«
Vorsichtig schlichen sie wieder aus dem Raum hinaus und auf den Gang zurück. Keine Menschenseele war zu sehen, und nichts war zu hören, sodass sie auf leisen Sohlen ihren Weg zum Heck fortsetzten. Es dauerte nicht mehr lange, da erreichten sie ein schweres Schott, hinter dem, wie ihnen ein Blick durch das in Kopfhöhe angebrachte Bullauge bestätigte, eine metallene Treppe lag. Diese führte durch einen fleischigen, schlauchartigen Gang, der an seinem Ende, dort, wo früher die Luke nach draußen gewesen sein mochte, eine Art Schließmuskel aufwies. Mit angewidertem Gesicht stieß Holmes, der vorausging, das graue Fleisch an, und der Muskel öffnete sich.
Kalte Luft und der unverkennbare Geruch von Tang und Salzwasser schlugen ihnen entgegen. Es war vollkommen finster draußen. Kein Mond und keine Sterne waren am Himmel zu sehen. Nur die fahl leuchtenden Augen der Nautilus am Bug erhellten die dunklen Wellen. Der Antrieb des Schiffes, irgendwo unter ihnen, gab ein dumpfes Stampfen von sich, kaum zu hören über dem Rauschen des Windes.
»Oh Himmel«, murmelte Holmes vor ihm. »Habe ich erwähnt, dass ich offene Gewässer überhaupt nicht leiden kann?«
»Nein, und jetzt ist mit Sicherheit der völlig falsche Zeitpunkt, es zu tun«, gab Randolph zurück. »Dort ist das Beiboot. Kommen Sie.«
Vorsichtig arbeiteten sich die beiden Männer die letzten Schritte über den gepanzerten und von stählernen Dornen übersäten Rücken der Nautilus bis zu dem Beiboot, das am Heck befestigt war und Platz für vielleicht sechs Leute bot. Im Gegensatz zur Nautilus bestand es nach wie vor überwiegend aus vernietetem Metall. Allerdings war es von einem fein verästelten Netzwerk aus Hautschläuchen überzogen, die irgendwie an Adern erinnerten, und die Sitzbänke fühlten sich seltsam weich an, wie das Innenleben einer Muschel.
»Denken Sie nicht darüber nach«, riet Randolph Holmes. »Setzen Sie sich einfach nur hin.«
Während der Magier es sich auf der hinteren Sitzbank bequem machte und Watson sich zu ihm gesellte, versuchte Randolph die an eine Nabelschnur erinnernde Leine zu lösen, musste allerdings feststellen, dass sie mit der Außenhaut der Nautilus verwachsen war. »Tut mir leid, aber es geht nicht anders«, brummte er, als er die Leine durchriss und das Boot mit einem der zwei neben den Sitzbänken liegenden Riemen abstieß.
Kaum hatte das Beiboot sich von der Nautilus gelöst, als es auch schon zurückfiel. Schaukelnd trieb es auf den Wellen dahin, während das Tauchboot mit Wellington und seinen Jüngern rasch in der Dunkelheit entschwand. Einen Moment noch sahen sie die Lichtkegel seiner Scheinwerferaugen, dann wurde es, bis auf den tröstlichen Schimmer der Geisterkatze, dunkel um die beiden Männer.
Sie waren entkommen – und schwammen alleine irgendwo auf dem Meer. Kein Stern stand am Himmel, und kein Licht eines Leuchtturms wies auf eine nahe Küstenlinie hin. Es war, als hätten sie sich mit nicht mehr als einer Nussschale auf eine Reise mitten ins Nichts aufgemacht.
»Oh verflixt!«, rief Holmes unvermittelt.
»Was ist los?«, fragte Randolph alarmiert.
»Wissen Sie, was mir gerade einfällt?«
»Nein, was denn?«
Der Magier seufzte und verzog das Gesicht. »Ich habe die Whiskeyflasche auf Wellingtons Schreibtisch vergessen. Und noch viel schlimmer: Ich habe keinen Schluck daraus getrunken …«
KAPITEL 26: GEGEN DIE ZEIT
»Die Queen in Nizza. Am gestrigen Morgen fuhr die Queen in Begleitung der Prinzessin Viktoria von Schleswig-Holstein nach La Tourelle. Um drei Uhr am Nachmittag empfing Ihre Majestät Mgr. Chapon, den Bischof von Nizza, und Señor Gambart, den spanischen Konsul. Um Viertel nach vier fuhren Ihre Majestät und Prinzessin Beatrice von Battenberg, begleitet von der Countess of Lytton, nach Falicon, wo sie den Tee einnahmen, bevor sie gegen Viertel nach sechs zurückkehrten.«
– London Times, 24. April 1897
24. April 1897, 9:12 Uhr GMT
England, Sunningdale, 25 Meilen westlich von London
Nach einer ereignislosen Nacht und einem gemeinsam eingenommenen Frühstück setzten Jonathan, Robert, Kendra und ihr Großvater ihre Reise nach Stonehenge fort. Stundenlang fuhr ihre Kutsche durch die englische Landschaft, an Wiesen und Feldern vorbei, durch Waldstücke und kleine Dörfer. Sie passierten
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