Magierdämmerung 02 - Gegen die Zeit
verflucht schlecht zu lesen.« Er schüttelte den Kopf, und in seinen wasserblauen Augen blitzte es spitzbübisch auf.
»Pech für Indien, gut für mich«, sagte Randolph. Er nahm eines der Päckchen, die im Inneren der Kiste lagen, heraus und inspizierte den Inhalt. Mit einem grimmigen Lächeln nickte er. »Ist gut. Ich nehme die Kisten.«
»Du meinst diese Kiste?«, fragte der irre Ire.
»Nein, ich meine die Kisten. Alle fünf«, stellte Randolph klar.
Der irre Ire pfiff leise durch die Zähne. »Suchst du etwas, oder willst du etwas loswerden?«
»Wenn ich es dir nicht sage, wird es dein Gewissen auch nicht belasten«, erwiderte der Kutscher.
Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Auch wieder wahr. Wie gedenkst du das alles zu bezahlen?«
»Hiermit«, sagte Randolph und zog einen Ring hervor. Die Goldfassung war wunderschön gearbeitet, und der Diamant darauf musste sicher ein halbes Karat haben.
Der irre Ire machte große Augen. »Ich hoffe, den hast du nicht gestohlen.«
»Gehörte meiner Großmutter«, erklärte Dunholms ehemaliger Diener, aber sein Tonfall legte nahe, dass das eher unwahrscheinlich war. Tatsächlich hatte er ihn auf dem Weg hierher mit magischer Hilfe in einem Juweliergeschäft mitgehen lassen. Das war sicher nicht richtig, aber er befand sich in einer Notlage, und der Juwelier war bestimmt versichert. Um den Iren vor Dummheiten zu bewahren, fügte er daher hinzu: »Du solltest ihn vielleicht trotzdem nicht hier in London versetzen. Aber sieh mal hier …« Randolph ließ den Ring wieder in seiner Tasche verschwinden. »Lässt sich viel leichter verbergen und transportieren als deine fünf Kisten, oder nicht?« Er grinste den Mann vielsagend an.
Auf den Zügen seines wieselgesichtigen Gegenübers arbeitete es angestrengt. Der irre Ire schien zu überlegen, wie hoch die Gefahr war, dass in den nächsten Tagen Scotland Yard an seine Tür klopfte und nach einem vermissten Schmuckstück fragte. Allem Anschein nach wollte er es darauf ankommen lassen, denn er spuckte herzhaft in die Hand und hielt sie Randolph hin. »Wir sind im Geschäft.«
»Gut«, sagte Randolph, während er die Hand schüttelte. »Bring die Kisten hinter den Bahnhof zum Ausgang an der Ecke Brushfield Street. Da steht meine Kutsche.« Das Fuhrwerk hatte er sich von einem alten Freund, der als Lagermeister an den London Docks arbeitete, geliehen. Er würde es wahrscheinlich nicht zurückgeben können. Aber das war im Augenblick noch seine geringste Sorge.
22. April 1897, 15:38 Uhr GMT
England, London, Ecke Bishopsgate Street/Brushfield Street
Timothy Crandon konnte sein Glück kaum fassen. Seit den Morgenstunden fuhr er nun mit einem Hansom-Cab durch die Straßen von London und suchte in der Wahrsicht nach Spuren, die auf den Verbleib Randolph Browns, des Russen Grigori, Mary-Ann McGowans und dieses schottischen Magiers McKellen hinwiesen, die nach der Machtübernahme Wellingtons aus der Unteren Guildhall entkommen waren und sich nun irgendwo hier draußen herumtrieben.
Der Magispector hatte dieser Suche innerlich kaum Erfolgsaussichten eingeräumt, nachdem sich herausgestellt hatte, dass weder Brown noch Grigori oder McGowan so unvorsichtig gewesen waren, irgendwelche Gegenstände in der Guildhall zurückzulassen, die sich für ein Aufspürritual eigneten. London war einfach zu groß, um von vielleicht zwanzig Männern und Frauen auf herkömmlichem Wege nach vier Flüchtlingen abgesucht werden zu können. Und das gegenwärtig immer noch zunehmende Magieniveau machte es nicht leichter, denn es sorgte überall für kleine Nischen leuchtender Magie im nervös flirrenden Fadenwerk, die entweder auf einen sich verbergenden Magier hinweisen mochten oder auch nur auf einen Busch am Rande eines Parks, der plötzlich seltsam schillernde Blüten trug. Aber Duncan Hyde-White hatte ihnen allen sehr deutlich gemacht, dass er einen Fehlschlag nicht akzeptieren würde, und so wäre Crandon auch noch bis in die Nacht durch den ihm zugeteilten östlichen Teil der City of London gefahren, wenn es nötig gewesen wäre.
Aber irgendjemand dort oben jenseits der dunklen Wolken, die an diesem Tag tief und irgendwie bedrohlich über den Dächern von London hingen, meinte es gut mit ihm. Crandon ließ sich gerade von seinem Fahrer die Bishopsgate Street in Richtung Süden hinabkutschieren, als ihm plötzlich auf Höhe des Güterbahnhofs inmitten des Fadengewimmels, das einen belebten Ort wie diesen auszeichnete, eine hell strahlende
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