Magierdämmerung 03 - In den Abgrund
vorbeischauen. Mister Brown und ich fürchteten schon, Sie niemals wiederzusehen. Warum gehen Sie mit Ihrem prachtvollen Fortbewegungsmittel nicht längsseits und kommen an Bord? Wir haben einiges zu bereden – und die Zeit ist knapp.«
»Was ist das denn für ein komischer Vogel?«, wollte der Holländer wissen.
Jonathan hatte beim Klang der Stimme die Augen aufgerissen. Jetzt drehte er sich mit einem breiten Lächeln zu den anderen um. »Ich glaube, unsere Lage hat sich soeben deutlich verbessert. Randolph und Holmes – Freunde von Kendra und mir – befinden sich an Bord des Luftschiffs. Wenn sie dort oben sind, haben wir von der Besatzung sicher nichts zu befürchten.«
»Wer fürchtet sich hier?«
Sie brachten das fliegende Schiff des Holländers so nahe heran, wie es ihnen möglich war. An einer kleinen Gondel, die unter dem gewaltigen, zigarrenförmigen Leib des Luftschiffs hing, öffnete sich eine Luke. Randolph, unverkennbar in seinem Kutschermantel, tauchte im Eingang auf und schwenkte seine Mütze. Die kurzen Hörner auf seiner Stirn glänzten im Widerschein der brennenden Motorgondel schräg hinter ihm. »Hierher, Jonathan!«, rief er.
Der Holländer deutete auf ein Tau, das vom hinteren Mast herunterhing und dessen unteres Ende unweit von ihnen an der Reling festgeknotet war. »Wir nehmen dieses hier, um uns hinüberzuschwingen«, sagte er.
»Sollte denn nicht einer von uns hier bleiben?«, erkundigte sich Kendra.
»Ich werde mich um Schiff kümmern«, sagte Fu. »Gehen Sie und begrüßen Freunde. Jeder Freund ist wertvoll hier draußen.«
Jonathan schwang sich zuerst über den gut zehn Schritt breiten Abgrund zwischen den Schiffsrümpfen, und er war dankbar dafür, dass dichter Nebel um ihn herrschte, sodass er nicht sah, wie tief unter ihm die Meeresoberfläche lag. Randolph schoss ihm ein Fadenbündel entgegen und zog ihn zu sich heran. Das Gleiche geschah mit Kendra und zuletzt mit dem Holländer.
»Es tut gut, Sie wiederzusehen, Jonathan«, sagte Dunholms ehemaliger Kutscher und schlug Jonathan so begeistert auf die Schulter, dass dieser leicht in die Knie ging. »Und natürlich ist es auch schön, Sie wiederzusehen, Miss McKellen.«
Kendra schenkte ihm ein verhaltenes Lächeln.
»Und wie ist Ihr Name?«, wandte sich Randolph an den dritten Gast.
»Man nennt mich den Holländer«, erwiderte dieser.
»Ah, dann sind Sie wohl der Kapitän dieses Seglers.« Der Kutscher musterte Jonathans Begleiter mit leichtem Argwohn. »Na, dann kommen Sie herein. Die anderen warten schon auf Sie.«
»Was machen Sie hier draußen?«, wollte Jonathan wissen, während er Randolph einen schmalen Gang hinunterfolgte. »Und was ist das für ein Gefährt?«
»Keine Sorge, Jonathan. All Ihre Fragen werden beantwortet … Aber wir müssen uns beeilen, wenn wir mit diesem Kahn noch irgendetwas erreichen wollen. Wellington hat uns einen ganz schönen Schlag verpasst.«
»Wellington?«, entfuhr es Jonathan. »Dann sind wir am Ziel?«
»Ja«, sagte Randolph mit düsterer Miene. »Aber freuen Sie sich nicht zu früh. Unser falscher Erster Lordmagier und seine Schergen waren nicht untätig.«
29. April 1897, 14:53 Uhr GMT (11:53 Uhr Ortszeit)
Mittelatlantischer Rücken, etwa 1600 Seemeilen vor der afrikanischen Küste
Als Grigori erwachte, brummte ihm der Schädel wie nach einem Abend mit einer guten Flasche Wodka. Nicht, dass er in den letzten Jahren in London viel guten Wodka getrunken hätte. Aber er erinnerte sich noch der wilden Gelage in seiner Heimat, in St. Petersburg. An die Zeit, bevor er wegen einer Intrige, die natürlich von einer verschmähten Frau ausgegangen war, aus dem Bund der gelben Bogatyr ausgeschlossen worden und gezwungen gewesen war, nach Westen zu fliehen.
Zugegeben: Ungeachtet einiger unbestreitbarer Nachteile, die England gegenüber dem Russischen Kaiserreich aufwies – etwa auf dem Gebiet geistvoller Getränke und in der Art, Feste zu feiern – , hatte Grigori diesen Schritt nie bereut. Im Orden des Silbernen Kreises hatte er dank Männern wie Albert Dunholm und Randolph Brown eine neue Heimat gefunden, und er war auf seine bescheidene Art mit seinem Leben zufrieden gewesen. Nach den Geschehnissen der letzten Tage allerdings begann er sich zu wünschen, er hätte dem Werben von Jekaterina vor vielen Jahren nachgegeben.
Seit der Spaltung des Ordens durch den Usurpator Wellington war es mit seinem Leben zunehmend bergab gegangen. Die Flucht aus der Unteren Guildhall, der Tod
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