Magierdämmerung 03 - In den Abgrund
keine Geheimnisse vor Haba. Schließlich war der Hase gemeinsam mit Questing in sein Leben getreten, jenem geheimnisvollen Mann, der sich als Magier von der Ostküste ausgegeben hatte, auch wenn Wovoka immer das Gefühl gehabt hatte, er komme von einem noch viel weiter entfernten Ort. Questing hatte ihn etwa ein halbes Jahr nach dem Massaker am Wounded Knee aufgesucht. Er hatte Wovoka aus seiner innerlichen Starre geweckt, ihn in die Welt der Magie eingeführt und ihm sein ganzes Wissen offenbart. Vor fünf Jahren hatte er den Paiute-Seher dann in den Kreis der Wächter der Wahren Quelle eingeführt, nur um anschließend zurück in den Osten zu gehen und den Kontakt bis auf ein paar sporadische Briefe abzubrechen. Haba hingegen hatte er zurückgelassen – als eigenwilligen, aber treuen Gefährten Wovokas.
»Wenn die Dinge sich so entwickeln, wie der Kreis es sich wünscht, wird der junge Engländer Jonathan Kentham, dem wir das Quellschloss anvertrauten, die Wahre Quelle der Magie unversehrt erreichen. Er wird das Artefakt in den Schlund der Quelle werfen, und diese wird sich dadurch erneut schließen. Die noch freie, rohe Magie wird im Laufe der Wochen verfliegen, und schließlich herrscht auf der Erde wieder die Ruhe, nach der sie sich sehnt.«
Glaubst du, dieser Jonathan ist seiner Aufgabe gewachsen?
Ohne sofort zu antworten, richtete Wovoka seinen Blick auf die wilde grüne Landschaft, die sich zu seinen Füßen erstreckte. Hohe Kiefern wuchsen dort im Schatten des To-to-kon oo-lah, jenes hohen Granitfelsens, der sich über dem Tal auftürmte und den die Weißen El Capitan nannten. Jenseits davon strömte der Merced River durch saftige Frühlingswiesen. Und dahinter erhoben sich die majestätischen Cathedral Rocks. Der Paiute, der eigentlich hundertsiebzig Meilen nordöstlich in Yerington, Nevada, lebte, kam nicht oft an diesen Ort. Aber wann immer es ihn ins Yosemite Valley zog, wurde er erneut von der ursprünglichen Schönheit des Ortes in Bann geschlagen. »Ich weiß es nicht«, gestand er nach einer Weile. »Ich weiß nicht, ob Mister Kentham Erfolg haben wird.«
Was könnte ihn scheitern lassen? , fragte Haba geduldig.
Wovoka bewunderte die Hartnäckigkeit des Präriehasen. Er ließ nicht locker, bis der Paiute wirklich erkannt hatte, was richtig und was falsch war. »Er sieht sich mächtigen Gegnern gegenüber: einem britischen Lordmagier, dessen Gefolgsleuten und den Scharen der dem Wahnsinn verfallenen Wächter der Quelle selbst. Kentham ist jung und unerfahren. Zwar trägt er enorme Kräfte in sich, aber er vermag sie nicht zu nutzen.«
Die Aufgabe, die ihn an der Wahren Quelle erwartet, ist also gefährlich.
»Ja, das ist sie.«
Und die Wahrscheinlichkeit, dass all seine Gegner ihn aufzuhalten vermögen, keineswegs gering.
Mit einem leichten Zögern gab Wovoka auch dies zu.
Haba legte den Kopf schief. Das klingt für mich so, als bräuchte Jonathan jede Hilfe, die er bekommen kann. Etwa die Hilfe eines aufrechten Mannes, eines großen Sehers, eines Quellwächters.
Tief in seinem Herzen wusste Wovoka, dass sein Gefährte recht hatte. Eigentlich hatte er von Anfang an gewusst, was in diesem schicksalhaften Konflikt seine Bestimmung war. Allein der Zweifel hatte ihn die Augen davor verschließen lassen. Und auch jetzt legte er ihm eine letzte Hürde in den Weg. »Was ist mit meiner Vision?«, fragte er.
Betrachte sie als Warnung. Es mag in deiner Hand liegen, die Welt zu retten. Doch übe Bescheidenheit. Du bist nicht der Auserwählte des Schicksals, du bist nur sein Diener.
Wovoka wandte den Blick vom Yosemite Valley ab und sah Haba an. »Deine Weisheit ist wie immer größer, als es dein Körper erwarten lässt. Ich danke dir.«
Gute Reise, Wovoka. Ich werde noch immer hier sein, wenn du zurückkehrst.
Der Paiute-Seher nahm die Worte mit einem Nicken zur Kenntnis. Anschließend erhob er sich und trat den Weg vom Rücken des El Capitan hinunter ins Tal an. Er wusste nun, wohin er seine Schritte lenken musste.
kapitel 29:
wolf und lamm
»Wie es aussieht, wird der nächste Dienstag ein ganz besonderer Tag in der Geschichte von New York. Nie zuvor wurde solch ein Aufwand betrieben, um eines einzelnen Mannes zu gedenken. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag des verstorbenen General Grant, bei denen das General Grant National Memorial eingeweiht wird, ist die ganze Stadt in Aufruhr. Tausende Besucher füllen bereits die Straßen, und es heißt, dass man in keinem Hotelflur an
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