Magische Insel
baff. Die junge Frau bat mich, fast noch einen Jungen, um einen Gefallen?
»Wenn ich etwas für dich tun kann …?«
»So vorsichtig? Ja … es ist keine große Sache … aber mir läge viel daran. Solltest du je einem rothaarigen Mann aus Enstronn begegnen – er nennt sich Leith –, dann sag ihm, dass Shrezsan ihm viel Glück wünscht.«
»Shrezsan …?«
»Das ist alles. Vielleicht zuviel verlangt.« Ihre Stimme klang geschäftsmäßig. »So, und jetzt geh lieber schnell weiter nach Nylan.«
»Du singst sehr schön.«
»Vielleicht ein andermal.« Sie blickte auf das Pferd und schnalzte mit den Zügeln.
Scheinbar beiläufig zuckte ich mit den Schultern.
»Vielleicht ein andermal, Shrezsan …«
Sie vermied es, mir in die Augen zu schauen. Wortlos schlug ich einen schnelleren Schritt an. In Enstronn sprach ich mit niemandem, was leicht war, da kein Haus näher als sechshundert Ellen an der Straße stand.
Gedankenverloren marschierte ich auf der Hohen Straße weiter und suchte vergeblich nach Antworten. Niemand schien die Gefahrenbrigade zu mögen, doch jeder betrachtete sie als notwendig. Obwohl keiner zu erklären vermochte, warum. Bislang hatte ich lediglich windige Sprüche über die Notwendigkeit von Ordnung im ständigen Kampf gegen das Chaos gehört. Aber wer war gegen Ordnung? Wer, der bei klarem Verstand war, wollte totales Chaos? Und was hatte die Gefahrenbrigade mit beidem zu tun?
Ich ging dahin und stellte Fragen, auf die es keine Antworten gab. Schließlich marschierte ich nur noch dahin, ohne mir den Kopf zu zerbrechen.
V
S obald ich mich am Vormittag vergewissert hatte, dass ich rechtzeitig in Nylan eintreffen würde, meldete sich mein Magen.
Nach Enstronn war ich durch Clarion marschiert und dann durch einen Ort, der Sigil hieß. Trotz des elegant geschriebenen Ortsschildes hatte ich noch nie von Sigil gehört. Und das hieß, dass hier nicht viel los sein konnte. Ich spähte angestrengt nach Norden und entdeckte ein paar Häuser, aber ansonsten sah ich nichts.
Hinter Sigil wurde die Straße etwas staubiger. Sie wurde auch nicht mehr so häufig benutzt. Die Sonne brannte auf den Staub und mich herab.
Schließlich tauchte rechts von der Hohen Straße eine Schutzhütte für Reisende auf. Eine Schutzhütte auf dem Weg zu einer der großen Hafenstädte Recluces?
Wenige Einwohner Recluces reisen soviel, und die Meister gestatten noch weniger fremden Händlern Zutritt zur Insel. Sie schienen immer zu wissen, wenn Fremde an den offenen Stränden im Süden landeten oder durch die Fjorde hereinschlichen, die die Berge an der Nordküste durchschneiden. Die Berge formen einen Schild gegen die schlimmsten Winterstürme, aber sie fangen auch die warmen, feuchten Winde aus dem Süden ab. Deshalb ist das Hochland so feucht und schwül – an manchen Stellen wie ein Dschungel.
Die Händler, denen erlaubt ist, Recluce zu bereisen, sind selten jung und immer sehr wortkarg. Für gewöhnlich kaufen sie Kunstwerke, Tonwaren oder andere Handwerksprodukte. Manchmal verkaufen sie Juwelen aus dem Süden: die gelben Diamanten und die tiefgrünen Smaragde, die es nur im fernen Hamor gibt.
Ich hatte mich früher gefragt, warum alle dieselben Münzen benutzten, ehe ich herausfand, dass das nicht so war. Abgesehen von den Pantarranern verwendeten die meisten Länder Münzen aus Kupfer, Silber oder Gold, die denen der Hamoraner und unseren ähneln. Alle tragen verschiedene Schriftzüge, doch das Gewicht ist gleich – wenn nicht jemand ein Stück abgezwackt hat. Warum? Wahrscheinlich weil beinahe alle mit Hamor Handel treiben. Selbst die Austrier, die so ungemein stolz sind, verwenden Münzen mit dem gleichen Gewicht, bezeichnen sie jedoch mit Namen, die niemand verwendet – nicht einmal in Austra.
Da so wenige Menschen über ein paar Städte hinauskommen, habe ich mich oft gefragt, warum die Hohe Straße so großzügig angelegt war. Mein Vater hatte nur den Kopf geschüttelt, Onkel Sardit ebenfalls nie geantwortet.
Je näher mich meine schmerzenden Füße zur Schutzhütte trugen, desto verlockender wurde die Vorstellung einer Ruhepause.
Die Schutzhütten am Straßenrand sehen alle gleich aus: ein Ziegeldach auf vier fensterlosen Wänden, eine Tür, die verriegelt werden kann, und eine breite überdachte Veranda mit steinernen Bänken. Drinnen gab es keine Möbel, nicht einmal einen Herd oder einen Kamin, in dem man Feuer zum Kochen hätte machen können. Diese Hütten dienten nur einer kurzen
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