Magische Insel
Lerris. Aber sie will nicht, dass du sie weinen siehst.«
Das hatte ich nicht gefragt. Warum nicht?
»Weil sie deine Mutter ist. Du verlangst von uns, dich so anzunehmen, wie du bist. Darf sie nicht auch sein, wie sie ist?«
Da war wieder dieser Abgrund, den wir nie überbrücken konnten.
»Ob wir ihn überbrücken oder nicht, liegt allein bei dir, Lerris. Wir wünschen dir beide alles nur erdenklich Gute, Sohn. Und wir hoffen …«
Ich kümmerte mich nicht darum, dass ihm die Stimme brach, und drehte mich um. Warum, zum Teufel, war er aus der Fassung geraten? Warum verstand er mich nicht?
Ich blickte nicht zurück und winkte auch nicht. Meine ersten Schritte waren sehr schnell, als ich losmarschierte. Doch dann sagten mir meine Beine, dass ich dieses Eiltempo nicht lange durchhalten würde. Ich ging bereits langsamer, ehe ich Wandernicht verlassen hatte. Ich würdigte weder den niedrigen Berg noch den Tempel mit den schwarzen Säulen eines Blickes. Was hatte mir all das Gerede über Ordnung gebracht?
Seltsamerweise fühlte sich der Stab in meiner Hand schwerer an als der Tornister auf meinem Rücken. Während die Gedanken in mir brodelten, traf mich eine Erkenntnis wie ein Blitz. Mein Vater hatte auf meine Gefühle geantwortet. Aber hatte ich sie eigentlich ausgesprochen? Kannte er mich so genau?
Ich zwang mich, diesen Gedanken abzuschütteln. Eigentlich spielte es keine Rolle, wohin ich ging. Nein, überhaupt nicht.
Der Morgen war warm. Wärmer, als es mir lieb war. Ich öffnete mein Hemd bis zum Gürtel, doch wegen des schweren Tornisters war das Hemd auf dem Rücken bald durchgeschwitzt. Den Umhang würde ich in den kommenden Monaten und Jahren brauchen, vorausgesetzt, ich lebte so lange. Jetzt lag er zusammengefaltet im Tornister.
Ich war so früh aufgebrochen, dass niemand außer mir auf der Hohen Straße war. Nur in den Obstgärten südlich von Wandernicht waren die Bauern bereits bei der Arbeit.
Die Hohe Straße ist so, wie sie heißt: eine solide Steinstraße, breit genug für vier Wagen nebeneinander. Sie ist Recluces Hauptverkehrsader, zu der alle anderen Straßen führen und für deren Instandhaltung alle Gemeinden verantwortlich sind. Als ich bei Onkel Sardit war, verbrachte ich mehrere Tage damit, einige Granitblöcke zu ersetzen. Doch diese Quader waren so massiv, dass man sie nicht oft ausbessern musste. Viel schwieriger war es, die Abflussgräben sauber zu halten, damit der Regen nicht den Unterbau der Straße auswusch, auf dem die Granitblöcke lagen. Doch selbst das konnte nicht so leicht geschehen, weil das Straßenbett solide gebaut und hervorragend befestigt war.
Auf dem Weg von Wandernicht nach Nylan kommt als nächster Ort Enstronn. Eigentlich ist es eher ein Dorf als ein Städtchen. Hier schneidet die Hohe Straße die Ost-West-Straße, die beinahe so wichtig wie die Hohe Straße ist.
Am westlichen Ende Enstronns holte ich einen niedrigen Wagen ein, der frühe Wassermelonen geladen hatte. Die Fahrerin schritt neben dem Pferd dahin und sang leise.
»… soll ich’s sagen, soll ich’s wagen?
Unter Sternen aus Eis zieh auf der Hohen Straße ich,
und des Winters Herrschaft weicht der Sonne Schein.«
Ich kannte das Lied nicht. Ich schlurfte etwas, als ich näher kam. Aus irgendeinem Grund hätte ich den Stab lieber weggesteckt, doch er war zu lang, als dass ich ihn an den Tornister binden konnte.
Ihre Stimme klang angenehm. Allerdings sah sie von hinten älter aus als ich. Dann hörte sie mich und verstummte. Sie drehte sich um und musterte mich unter einem Hut mit breiter Krempe und einem Band aus blauweißem Stoff.
Ich glich meine Schritte den ihren an.
Sie hatte dunkles Haar, ein schmales Gesicht und war wohl so alt wie Corso – Mitte Zwanzig.
»So früh unterwegs? Muss wichtig sein.« Ihr Lächeln war hübsch.
»Gefahrenbrigade«, bekannte ich.
»Dafür bist du etwas jung.«
»Die Idee stammt nicht nur von mir.« Ich schluckte. Welches Recht hatte sie, mich zu beurteilen?
Dann wurden ihre Augen groß, als sie meinen Stab betrachtete, den ich in der linken Hand hielt. »Der Stab – gehört er dir?«
»Ja.« Ich fragte mich, welche Rolle es spielte, ob der schwarze Stab mir gehörte. Ein Stab war ein Stab. Im Augenblick war er mir lästig, obgleich ich wusste, dass ich ihn brauchen würde, nachdem ich Recluce verlassen hätte.
Sie lächelte wieder, doch irgendwie traurig. »Dann solltest du dich beeilen … und … tust du mir einen Gefallen?«
Ich war
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