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Magna Mater - Roman

Magna Mater - Roman

Titel: Magna Mater - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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ganz gewiss nicht. Aber Menschen, die nicht schreiben und lesen können, denken nicht abstrakt. Sie verfügen über eine emotionale Intelligenz, wie sie höherstehenden Tieren gegeben ist, allerdings vielfach gesteigert durch die Trepanation, die Verformung des noch weichen Schädels der Neugeborenen. Der Blühende ist in der Lage, die kompliziertesten Aufgaben zu lösen. Richtig dazu angeleitet, bereitet ihm jede Aufgabe Freude. Die meiste körperliche Tätigkeit wird von Gesang und Händeklatschen begleitet. Und selbst das Lernen erfolgt mit tänzerischer Bewegung.
    Es ist eine Freude, sie zu unterrichten. Als junge Ordensfrau habe ich das oft getan. Du zeigst ihnen einen Gegenstand aus Korallin und rufst: »Das ist Korallin!«
    Und aus zwei Dutzend junger Kehlen schallt dir lautstark entgegen: »Korallin, Korallin, Korallin!« Und dabei stampfen, hüpfen und tanzen sie so lange, bis sich der Begriff in ihr Bewusstsein eingeprägt hat. Auf diese Art und Weise erlernen sie die kompliziertesten Begriffe wie im Spiel.
    Wir vermitteln ihnen nicht Wissen, sondern Können. Denn Wissen ist niemals das Resultat von fleißig Erlerntem, sondern immer nur das Ergebnis langjähriger Kenntnis, wie sie dem Orden innewohnt. Was die Blühenden von uns erfahren, können sie lediglich glauben, aber niemals wissen. So betrachtet, sind sie eine große Glaubensgemeinschaft, die die Erkenntnisse einiger wahrhaft Wissender gläubig wiederkäut. Mehr bedarf es nicht, denn Wissen hat die Menschen nicht glücklicher gemacht.
    Die Geschichte der sogenannten Naturwissenschaften ist in Wahrheit die Geschichte menschlicher Irrtümer. Jede Generation von Gelehrten war sich sicher, die Irrtümer der Vergangenheit beseitigt zu haben und im Besitz der Wahrheit zu sein. Ihre Fortschrittsgläubigkeit vermochte nicht einzusehen, dass die Wahrheit von heute der Irrtum von morgen ist.
    »Gilt das nicht auch für uns Heutige?«, hat mich ein Schüler gefragt.
    »Nein, denn wir leben im Einklang mit der Natur, und dort ist die Wahrheit von heute nicht der Irrtum von morgen, andernfalls wird er ausgemerzt.«

19. KAPITEL
    W ie sehr bewundere ich die Möwen, wenn sie leicht und schwerelos am Himmel hängen, ganz im Gegensatz zu den Fledermäusen, die den Eindruck erwecken, nur ihr hektischer Zickzackflug würde sie vor dem Absturz bewahren. Sie schießen so blitzartig durch das Dunkel, dass man sie bloß als schemenhaften Spuk wahrnimmt. Aus der Nähe betrachtet, sind sie hässlich. Alte Ordensfrauen haben so faltige Haut, so verknitterte Gesichter und rot umränderte Augen, mit denen sie schwachsichtig ins Licht blinzeln.
    Trotzdem mag ich diese nackthäutigen Kobolde. Und ich glaube, sie mögen mich auch, denn sie scheinen sich im Dachstuhl meines Hauses sehr wohlzufühlen. Angenehme Mitbewohner, die keinen Ton von sich geben, jedenfalls keine Töne, die wir Menschen hören können. Umso störender ist ihr Balzgehabe während der Paarungszeit. Da sie nachtaktive Tiere sind, beginnt das Spektakel immer dann, wenn ich schlafen will.
    Es war wieder einmal so weit. Ich lag auf meinem Bett und ließ sie gewähren. Sie schienen noch aufgeregter als sonst zu sein. Lag es am Mond, der hell in mein Zimmer schien? Auch ich kann mich seinem Zauber nicht zu entziehen. Im Sonnenlicht reifen die Gedanken, im Mondschein aber erwachen die Träume.
    Ich schreckte aus dem Schlaf. Das Fledermausgeflatter war verstummt. Morgenstille lastete auf dem Land. Die Vögel, die sonst um diese Zeit den Tag begrüßen, schienen davongeflogen zu sein. Selbst die Zikaden ließen nichts von sich hören. Kein Windhauch. Kein Laut. Die Stille war bedrohlich.
    Calligula, der zahme Rabe, hockte mit offenem Schnabel und zitternden Flügelspitzen auf seiner Stange beim Fenster und starrte mit schräg gelegtem Kopf hinaus auf die See. Er hatte Angst. Man sah es ihm an. Irgendetwas war verkehrt mit dem Meer. Es lag da wie erstarrt, glatt wie Spiegelglas, friedlich und doch Furcht einflößend. Dabei war der Himmel wolkenlos, ohne Anzeichen von Sturm oder Unwetter. Die Wellen, die sonst tosend gegen die Steilwand brandeten, umspülten sanft plätschernd die Felsen in meiner Bucht.
    Als ich die steile Steintreppe zum Ankerplatz hinabsteigen wollte, sah ich auf halbem Weg, wie das Meer davonfloss, so wie Wasser aus einer Badewanne, wenn man den Stöpsel herauszieht.
    Erschrocken hielt ich inne. Ich fuhr mir über die Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich, wie mein Boot, das eben noch im

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