Magna Mater - Roman
Jakaranda hergebracht hatte, trug ich es zum Boot. Der Weg zum Steg war jetzt voller Menschen. Man sprach mich an, wollte sich mit mir unterhalten, und ich konnte nicht davonhasten, ohne Argwohn zu erregen. Zu allem Unglück kam jetzt auch noch der kleine Hund herbeigelaufen und begann an meiner Tasche zu schnuppern. Nass geschwitzt vor Angst, erreichte ich die Mole. Um das Boot mit beiden Händen heranzuziehen, musste ich die Tasche auf dem Steg absetzen. Ein Junge wollte mir behilflich sein. Er griff nach der Tasche, um sie mir hinüberzureichen. Dabei begann der Inhalt zu strampeln und schreien. Entsetzt ließ der Junge die Tasche fallen und rannte davon. Ich riss die Tasche an mich, stieß das Boot vom Steg und suchte das Weite. Das Herz schlug mir bis zum Hals hinauf.
Auf offener See, fernab von den Inseln, warf ich die Tasche ins Meer und schaute zu, wie sie gluckernd versank. Ich empfand kein Mitleid, so wie die Bienen kein Mitleid empfinden, wenn sie beim Schlüpfen der neuen Königin alle anderen heranreifenden Königinnen in ihren Waben töten. Ihr Leben gegen das Leben der Einen und Einzigen. So lautet das Gesetz. Und wie alle Gesetze ist es herzlos.
Auch auf der Geburtsstation werden Kinder getötet, die nicht den strengen Anforderungen entsprechen. Das geschieht zwar meist schon, bevor sie das Licht der Welt erblicken, aber wo liegt der Unterschied? Dabei sind viele nicht einmal missgebildet. Sie gehören bloß zum falschen Geschlecht. Nur jeder fünfte Fötus ist ein Knabe. Mehr werden nicht benötigt. Wir sind eben doch wie die Bienen eine sehr weibliche Gesellschaft.
Ich aber habe einem Knaben das Leben geschenkt. Ich habe es ihm erkämpft und gewonnen.
17. KAPITEL
D ie Sehnsucht nach meinem Kind raubte mir den Schlaf. Nachts schwor ich mir: Morgen früh fährst du nach Urutawa! Bei Tageslicht rief ich mich zur Vernunft: Tue das nicht. Lass die Wunde verheilen!
Aus eigener Beobachtung weiß ich: Wenn man einen jungen Vogel aus dem Nest nimmt und ihn wieder zurücklegt, nimmt ihn die Mutter nicht mehr an. Das Band zwischen ihr und dem Neugeborenen zerreißt bei gewaltsamer Trennung sehr rasch. Das gilt für viele Wildtiere, nicht aber für uns Menschen. Ich hing an meinem Kind, als wäre es ein Teil von mir, und das war es ja auch.
Nach einem Monat, der mir so lang erschien wie ein ganzes Jahr, hielt ich es nicht länger aus und fuhr nach Urutawa. Als ich die Aufzuchtstation für Säuglinge betrat, schlug mir das Herz bis zum Hals. Ohne zu zögern, ging ich an all den anderen Körben vorbei zu meinem Kind. Die Stimme des Blutes war so stark, dass ich es vermutlich sogar mit geschlossenen Augen gefunden hätte. Die meisten Kleinen schliefen. Jakaranda aber streckte mir seine Ärmchen entgegen, als hätte er mich erwartet. Dabei leuchteten seine Augen so strahlend blau wie der Himmel über den Bergen.
»Ein ungewöhnliches Kind«, sagte Mater Hecuba, die für die Betreuung der Jüngsten verantwortlich war. »So anders als alle anderen.«
»Wieso anders?«
»Es verfügt über geheimnisvolle Kräfte. Jeder fühlt sich von ihm angezogen. Auch du bist an allen anderen vorbei direkt zu ihm gelaufen. Sind es die Augen, die uns alle so in den Bann schlagen?« Sie beugte sich zu Jakaranda hinab, um ihn zuzudecken: »Ich kann mich nicht erinnern, jemals in solche Augen geblickt zu haben.«
»Er ist schön.«
»Ja, wunderschön«, gab sie mir recht. »Fast ein wenig zu schön. Er wird es weit bringen.«
»Ja«, sagte ich und spürte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen.
»Fehlt dir etwas, Schwester?«, fragte Mater Hecuba.
Und ich schwieg wie eine, die ein Verbrechen in ihrer Brust verbirgt. Ich hatte ein Kind ermordet, um meinem Kind das Leben zu bewahren. Und ich würde es wieder tun. Gibt es größeres Glück, als ein Kind zu haben? Gibt es größeres Leid, als ein Kind zu verlieren?
Wäre Jakaranda gestorben, ich hätte ihn beweint wie Merimé, die ich geliebt habe. Ein Leben lang von ihm getrennt zu sein, erschien mir schlimmer als der Tod.
Ich vergrub mich in meiner Arbeit, hielt Vorträge, sprach über das Denken, um nicht an ihn denken zu müssen:
Wir wissen nicht, was Denken ist, woraus es besteht, wie es vor sich geht. Wir können das Denken ebenso wenig anhalten wie den Atem. Dabei erfolgt der weitaus größte und wichtigste Teil unseres Lebens gedankenlos: Atmung, Wachstum, Verdauung, Heilung, Schlaf, das alles geschieht uns ohne unser bewusstes Dazutun. Würde ein
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