Magnolia Steel - Städing, S: Magnolia Steel
verbliebenen Auge zu. Ich bin auch eine ungewöhnliche Katze, sollte das heißen.
Linette zog inzwischen einen aus Zweigen geflochtenen kleinen Rucksackkorb hinter dem Ofen hervor und nahm ihn auf den Rücken.
»So ein Ding habe ich bisher nur in alten Heimatfilmen gesehen«, sagte Magnolia.
»Ich benutze die Kiepe häufig«, antwortete ihre Tante. »Vor allem zum Sammeln von Wildkräutern, die ich in meinem Garten nicht ziehen kann. Wenn du Lust hast, darfst du mich heute Morgen auf den Kuckucksberg begleiten.«
»Klar habe ich Lust«, erwiderte Magnolia, »gib mir nur zwei Minuten, um meine Jacke zu holen.«
Sie sauste hinauf in den Turm und blieb wie angewurzelt in der Tür stehen. Die Sonne schien durch die weit geöffneten Fenster und ein Rotkehlchen trällerte auf der Fensterbank seinen Morgengruß. Magnolia wusste nicht, wie ihr geschah, aber plötzlich hatte sie selbst so ein kleines, sonniges Gefühl im Bauch. Dabei hatte sie doch eigentlich Grund genug, traurig zu sein, so mutterseelenallein.
Egal! Sie gab sich einen Ruck, schnappte ihre Jacke und sprang die Treppen wieder hinunter in die Diele, wo Tante Linette bereits auf sie wartete. Mit ihren derben Wanderschuhen, dem geblümten Schlapphut und der Weidenkiepe auf dem Rücken sah sie unbestritten interessant aus.
»Na endlich!«, rief sie und marschierte mit großen Schritten zur Tür hinaus.
Frisch und ausgeruht kamen sie gut voran. Tante Linette war nicht besonders gesprächig. Hier und dort machte sie Magnolia auf einebestimmte Pflanze oder einen seltenen Käfer aufmerksam, ansonsten schritt sie schweigend bergauf.
»Warum heißt dein Haus eigentlich Regenfass?«, fragte Magnolia, der es allmählich langweilig wurde, nur so durch die Landschaft zu trotten.
Tante Linette grinste. »Kleiner Unfall mit einem Greif. Im Dach klaffte ein gigantisches Loch und es hat ständig hineingeregnet. Es war wie verhext! Das Loch war einfach nicht zu stopfen, da half kein noch so ausgeklügelter Zau … Schließlich kam ich auf die nette Idee mit dem Turm. Praktisch, nicht wahr?«
Sehr praktisch, das musste Magnolia zugeben. Aber irgendwie nicht ganz normal. Und was war mit dem Greifer, der den Schaden angerichtet hatte?
Zu gerne hätte sie noch einmal nachgefragt, aber ihre Tante war bereits hinter zwei Tannen verschwunden.
Am Fuße des Kuckucksbergs angelangt, machten sie sich an den beschwerlichen Aufstieg. Tante Linette schnaufte dabei wie eine alte Dampfmaschine und Magnolia rief sich vorsichtshalber noch einmal ihren Erste-Hilfe-Kurs ins Gedächtnis. Glücklicherweise gelangten sie ohne Zwischenfall ans Ziel.
Hier oben bot sich ihnen ein herrlicher Ausblick. Die Wälder lagen ihnen zu Füßen und ein sanfter Wind kühlte ihre erhitzten Gesichter. Linette ließ die Kiepe zu Boden gleiten und tupfte sich umständlich die Stirn.
»Genial«, stieß Magnolia keuchend hervor. »Hörst du das Plätschern? Hier oben muss es eine Quelle geben. Ob man daraus trinken kann?«
»Sicher, du musst sie bloß finden«, lachte Tante Linette.
Sofort machte sich Magnolia auf die Suche. Wie ein junger Spaniel schnüffelte sie hier, suchte dort und hatte die Quelle bald entdeckt.
Auf der Rückseite des Berges quoll das kristallklare Wasser auseiner Felsspalte und ergoss sich hell glitzernd in ein natürliches Becken aus Stein.
»Tante Linette, komm schnell! So etwas habe ich noch nie gesehen! Wahnsinn!«
»Dieses Wasser ist noch lebendig«, sagte Linette leise. »Aber schau dich um, Täubchen. Schau dich um und sage mir, was du sonst noch von hier oben siehst.«
Bereitwillig ließ Magnolia ihren Blick schweifen und gab Auskunft über das, was sie sah.
Blauer Himmel, weite Wälder und dort unten schlängelte sich dunkel ein Fluss durch ein Tal. Irgendwo in weiter Ferne glitzerten ein paar rote Dächer. Das musste Rauschwald sein.
»Weiter«, drängte Linette, »schau genau.«
Was, noch genauer? Ihre Tante konnte ja gar nicht genug kriegen.
Höflich strapazierte Magnolia ihre Augen aufs Neue und auf einmal hörte sie das tiefe »Grock« der Raben. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Ihr Blick glitt gehetzt zu dem gegenüberliegenden Hügel.
Linette folgte ihrem Blick. »Und?«, fragte sie gespannt.
»Ich sehe Raben«, murmelte Magnolia, »und eine Burg, die sich im Nebel versteckt.« Ihr Verstand raste. Auf der anderen Seite des Tals war das Wetter wesentlich schlechter. Dichte Gewitterwolken hingen tief über den geschwärzten Zinnen der Burg und über
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