Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Baronsky
Vom Netzwerk:
Oder
     bildet sie sich das alles nur ein, und Häuser sind in Wirklichkeit viel unbeirrbarer? Wenn sie die Augen schließt, kann sie
     ihr Elternhaus riechen, einen schweren, holzigen Geruch, sie streicht über den Eichenrahmen des Kanapees, das in der Wohnstube
     stand, spürt die winzigen Knötchen der Polster, Kreuzstich, von der Großmutter eigenhändig gestickt, Oma Agnes, sie sieht
     sie an dem großen Tisch in der Küche stehen und plätten, auch das ein Geruch, der ins Haus gehörte,der Duft dampfender Wäsche, die man nicht berühren durfte, damit sie nicht wieder schmutzig wurde. So hat es später nie wieder
     gerochen, in Berlin nicht, oder?
    Rasch zieht Wilhelmine die Decke höher. Daran erinnert sie sich nicht. Bestimmt nicht. O nein!
    In Frankfurt unten, wie war es da? Der säuerlich-kalte Gestank von Metall und Gummi fällt ihr ein, der speckige vom Teer der
     Fahrbahn, sie kann die ewig kühlen Terrazzostufen im Treppenhaus fühlen, die aussahen wie frisch aufgeschnittener Presskopp
     und die sie wohl Tausende Male auf- und abgelaufen ist. Sie hört die Stimmen der Kinder, Apfelkuchen, immer wieder Apfelkuchen,
     Tante Mine, back uns Apfelkuchen. Eine laute Zeit, gleich an der Straße, die Autos wurden immer zahlreicher, nur hinter dem
     Haus, im Hof, da war es ruhiger, da stand die große Erle und gab Schatten, während die Kinder sich aus den monströsen Kisten,
     die sich im Lager stapelten, Häuser bauten, mit Dach und Fensterläden. Irgendwann waren sie fort, die Erle und die Kinder
     auch, und aus dem Hof wurde ein Parkplatz, die Kundschaft geht vor, hatte Paul immer gesagt.
    Ja, der war so ganz anders gewesen als ihr Josef, obwohl er kaum drei Jahre jünger als sein Bruder war. Die Kundschaft seiner
     Eisenwarenhandlung war ganz oben in Pauls Hierarchie angesiedelt, den guten Kunden hielt er persönlich die Türe auf und lieferte
     kostenlos an, und wenn es bloß ein paar Schrauben waren, notfalls war er dafür bis spät abends unterwegs. Für seine Kinder
     hat er nie Zeit gehabt. Ach. Wilhelmine atmet tief aus.
    Wonach mag dieses Haus hier riechen? Sie runzelt die Brauen, weiß es nicht recht, obwohl sie es seit vierzigJahren bewohnt. Den eigenen Geruch nimmt man nicht wahr, erst jetzt, da das Haus beginnt, ihr zu entgleiten, bemerkt sie eine
     Veränderung.
    Sie hätte das Mädchen um ein Buch bitten sollen, doch die Bücher sind alle im Arbeitszimmer, da soll sie nicht hinein, soll
     nicht herumkramen können zwischen den Sachen, die niemanden etwas angehen und zu denen Wilhelmine nicht einmal selbst mehr
     Zugang hat.
    Wo sie nur bleibt? Wilhelmine spürt, dass sie bald zur Toilette muss, tastet unter das Nachthemd, aber da ist keine Windel,
     nur der Schlüpfer. Hoffentlich kommt das Mädchen bald. Wilhelmine sucht nach einem Handtuch, das sie notfalls unterlegen könnte,
     findet nur die Serviette vom Frühstück, die hat sie liegenlassen, die Lisa. Ja, Lisa, so heißt sie.
    »Lisa?« Wilhelmine weiß doch, dass niemand im Haus ist. Sie presst die Klingel. Alles bleibt still, nur die Heizung klopft
     beharrlich. Der Druck auf den Anus, sie wird es nicht zurückhalten können, da ist sie sicher, das konnte sie früher einmal,
     als junge Frau, aber das ist lange her. Kalter Schweiß bricht ihr aus, der Atem geht schneller. Ach Gott, die Matratze … Lisa!
     
    Sie muss aufstehen, das Malheur beseitigen, wenn sie doch nur aufstehen könnte, die Beine aus dem Bett brächte und sich am
     Nachttisch abstützen könnte … Nein, Wilhelmine kann nicht aufstehen, sie wird aus dem Bett fallen, wie gestern, und jämmerlich
     auf dem Vorleger liegen, bis jemand kommt und schimpft, als sei sie nicht mehr richtig gescheit.
    Sie wagt sich kaum zu bewegen, reckt nur den Arm,bekommt den Zipfel der Serviette zu fassen und schüttelt sie, die gute Damastserviette, dass der silberne Serviettenring zu
     Boden poltert. Dann versucht sie, das ausgebreitete Tuch unter sich zu schieben. Jetzt ist auch ihre Hand beschmutzt, herrje,
     sie spürt, dass ihr die Röte heiß ins Gesicht schießt.
    Wilhelmine ergibt sich, liegt stumm und unbeweglich, um es nicht noch schlimmer zu machen.
    So ist er, der Anfang vom Ende, es hört auf, wie es angefangen hat. Wenn sie bloß nichts mehr davon mitbekäme. Wilhelmine
     verflucht ihren Verstand. Das hat sie schon einmal getan, damals, als es schlimmer nicht mehr ging. Diesen Geist verwünscht,
     der alles noch unerträglicher macht, der noch immer nicht schlappmachen will,

Weitere Kostenlose Bücher