Magnolienschlaf - Roman
das Telefon.
Spricht Worte, längst vergessen geglaubte, beißende Worte, und Wilhelmine ist, als risse ein Vorhang entzwei, hinter dem sie
sich all die Jahrzehnte verborgen hatten.
Wilhelmine versteht kein Wort und begreift. Fassungslos starrt sie das Mädchen an, krallt die Finger in die Klopapierrolle.
Dass ihr Mund offen steht, merkt sie erst, als der Kiefer zu zittern beginnt.
»Raus.« Beinahe ein Flehen, ihre Stimme ist heiser, ihr Herz wummert, dass der Körper mitschlägt. Sie muss sich räuspern und
wiederholt es lauter: »Raus!«
Lisa dreht sich um, das Lachen steht noch in ihrem Gesicht, als sie auf Wilhelmine zukommt. »Fertig?«
Wilhelmine sieht und fühlt nichts mehr, spürt nichts als die rasende Kraft, die aus ihr herauswill. Ohne nachzudenken, schlägt
sie zu, so fest sie kann, trifft den Arm der anderen, deren Miene augenblicklich gefriert. »Fass mich nicht an!«, schreit
Wilhelmine. »Verschwinde!«
Das Mädchen weicht zurück, hebt die Hände. »Hey, ist gut, alles in Ordnung. Ich warte.«
»Raus, hab ich gesagt!« Der Zorn sitzt tief in ihren Gliedern, am liebsten spränge sie auf, um dieses Weib aus dem Haus zu
prügeln; doch ihr Körper lähmt sie. Nie war er ihr ein größerer Feind. Mit aller Kraft wirft sie die Papierrolle nach ihr,
trifft sie am Bauch. »Raus.«
Das Mädchen schüttelt den Kopf, bückt sich nach der Rolle. Da packt Wilhelmine das volle Wasserglas, das auf dem Nachttisch
steht, und schleudert es in Lisas Richtung. Wasser spritzt, die Russin schreit auf, das Glas verfehlt nur knapp ihre Schläfe,
landet mit dumpfem Schlag auf dem Teppich.
»Da, poschla ty na chui!« Jetzt brüllt auch die Russin und zieht die Tür mit Nachdruck hinter sich zu. Das Poltern ihrer Schritte
auf der Treppe vermengt sich mit dem Puls, der in Wilhelmines Ohren dröhnt, zu einem bedrohlichen Getöse und kratzt jäh an
ihrer Erinnerung. Wie Geister tauchen Bilder auf, höhnisch grinsende Gespenster, Wilhelmine sträubt sich, krallt ihre Finger
in die Armlehnen, bis das Herz sich mit Mühe beruhigt. Sie atmet tief, spürt, dass der Schmerz wieder in ihrem Rücken aufsteigt
und sie in die Gegenwart zurücktreibt. Sie muss von diesem Stuhl herunter, und das Weib muss aus dem Haus.
Wilhelmine beugt sich zur Seite und angelt den Telefonapparat vom Nachttisch. Sie braucht mehrere Anläufe, bis sie die Nummer
korrekt in die Tasten gedrückt bekommt und Dieter sich endlich meldet.
»Du musst kommen«, bringt sie hervor, »ich will ins Bett zurück.«
» Was
ist los? – Warte mal, Franz, einen Moment.« Dieter telefoniert wieder mit zwei Telefonen gleichzeitig, das tut er immer. »Was
ist, Tante Minchen, ist alles in Ordnung?«
»Du musst herkommen, Dieter, sofort.«
»Ich rufe gleich zurück, Franz, ja? – So, Tante Mine, was gibts denn?«
»Komm her, schnell.«
»Jetzt sag mir doch erst mal, was passiert ist, bist du schon wieder aus dem Bett gefallen?«
»Ich bin auf dem Stuhl.«
Dieter seufzt, Wilhelmine hört, wie er nach Karin ruft, es klingt wattig, wahrscheinlich hält er den Hörer an seinen Pullover
gedrückt. Nach einer Weile dröhnt Karins Stimme aus dem Apparat.
»Was ist denn nun schon wieder los, Minchen?«
»Einer muss kommen.« Wilhelmines Stimme verliert an Halt. »Jetzt gleich.«
»Ach, Minchen.« Karin klingt genervt. »Wo ist denn die Lisa, die hilft dir doch wieder ins Bett.«
»Von so einer lass ich mich nicht anfassen!«
Karin schnappt hörbar nach Luft. »Warum denn das auf einmal?«
»Sie soll weg.«
»Tante Minchen, jetzt werde vernünftig, was soll das?«
Wilhelmine schweigt, kaut auf ihrer Unterlippe.
»Hör zu, ich muss dringend Koffer packen, ich hab jetzt wirklich keine Zeit für so einen Unsinn. Gib mir die Lisa mal ans
Telefon.«
»Nein! Du sollst kommen. Ich friere, und ich will wieder ins Bett. Soll ich krank werden?«
Auf der anderen Seite wird das Telefon aufgelegt.
Die Kälte steigt Wilhelmines nackte Beine empor. Die können sie doch nicht einfach hier sitzen lassen!
Nochmals wählt sie die Nummer, wieder meldet sich Dieter.
»Karin muss aber herkommen.« Entsetzt merkt Wilhelmine, dass sie jammert, sie hat nie gejammert, so tief ist sie nie gesunken.
Bis jetzt nicht.
»Karin ist schon unterwegs, Tante Minchen. Nun beruhige dich mal.«
Wilhelmine nickt, lässt das Telefon in ihren Schoß sinken. Noch eine Weile hört sie ein leises Tuten, schließlich drückt sie
auf den roten Hörer. Dann ist es
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