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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Baronsky
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still.
    Sie versucht, nicht zu denken. Doch die Gedanken stürzen auf sie ein, sie kann nicht schlucken, und Luft bekommt sie auch
     keine mehr. Irgendwann muss es ja mal zu Ende sein, und jetzt wäre vielleicht der beste Moment.
    Davon stirbt man nicht.
    O doch, davon stirbt man.
     
    Sie reißt mit den Daumen am kunstledernen Bezug der Armlehnen, schickt den Blick verbissen im Raum umher, doch unvermittelt
     und ohne Gnade steigen die Bilder auf, allesamt Schwarzweiß. Kein Grün mehr unten und kein Blau mehr oben, Grauen kommt von
     Grau.
    Sie steigt über Betonbrocken, aus denen Backsteine ragen, die scharfen Kanten geborstener Metallrohre schneiden in ihre Wade.
     Sie bahnt sich keinen Weg, sondern geht schnurgeradeaus, immer weiter, klettert blind über riesige, schräg liegende Mauerstücke,
     die unter ihrnachgeben, und bricht in die Trümmer ein, reißt sich die Hände an Glasscherben blutig und spürt doch nichts.
    Und still ist es, ganz furchtbar still; kein Vogel, kein Geräusch, nichts, für eine winzige Ewigkeit nicht einmal Geschützlärm,
     als sei sie die Letzte, die übrig ist in einer gottverlassenen Welt. Genauso fühlt sie sich, unecht, wie im Traum. Sie läuft
     weiter und ruft nach ihr, immerzu, aber natürlich kommt keine Antwort, es ist ja niemand mehr da. Nur der Geruch erinnert
     an etwas, dieser staubige Brandgeruch, als hätte man die ganze Stadt geräuchert, Menschen, Puppenwagen, Kinosessel.
    So steht sie dort, zwischen Bergen aus Schutt, bis das erlösende Dröhnen von Tieffliegern in der Ferne zu hören ist. Ohne
     zu zögern, läuft sie ihnen entgegen, hinein in das anschwellende Geheul, bleibt schließlich stehen, schließt die Augen und
     schwenkt die Arme wie Flaggenstangen, doch niemand nimmt Notiz von ihr. Erst ein paar Straßen weiter kommt die ganze Ladung
     herunter und bringt für einen starren Moment den Boden zum Zittern. Hilflos lässt Wilhelmine die Arme sinken und marschiert
     weiter, immer weiter, dorthin, wo es nun wieder ballert und kracht. Mitten hinein wird sie laufen, irgendeinem verdammten
     Drecksrussen vor den Schoß und vor den Lauf.
    Eine Handvoll Soldaten kommt aus einer Straße gerannt, sie könnte nicht sagen, welche Straße es ist oder welche Uniform sie
     tragen, es sieht alles gleich aus, überall nur die verkohlten Gerippe der Häuser, Trümmerberge, nichts als Schutt. Noch einmal
     hebt sie die Hände und winkt. »Schießt mich tot, ihr Drecksrussen, schießt mich endlich tot!« Sie brüllt, als könne sie ihnenbefehlen, doch sie sehen nicht einmal zu ihr herüber, diesen Gefallen wollen sie ihr nicht tun.
    Jemand packt sie an der Schulter.
    »Aaah!« Wilhelmine schreckt jäh zusammen, reißt die Augen auf. Sie hat Karin nicht kommen hören.
    »Um Himmels willen, was ist denn mit dir los?« Energisch legt Karin ihre warme Hand auf Wilhelmines Stirn, packt sie dann
     unter den Armen und führt den vergessenen Körper zum Bett zurück. Wilhelmine zittert, erst jetzt, da sie sich in die Kissen
     sinken lässt, spürt sie, wie sehr ihr Rücken schmerzt.
    »Was soll das Theater, Tante Minchen, was hat das Mädel dir denn getan?«
    »Das Russenweib soll fort, Karin, schaff sie mir aus dem Haus. Bitte, das musst du.«
    »Warum denn das?«
    »Das ist meine Sache.«
    Karin stöhnt auf. »Tante Minchen, so geht das nicht. Wie stellst du dir das denn vor? Ich kann nicht noch mal wochenlang nach
     einer Pflegerin suchen, ich bin froh, dass wir endlich jemanden gefunden haben.«
    » Du
kannst doch …«
    »Ich? Ach, Minchen! Du weißt genau, dass wir Freitag wegfahren. Ein zweites Mal blase ich das nicht ab. Wir brauchen unseren
     Urlaub, Dieter und ich. Du wirst schon klarkommen mit dem Mädchen.«
    Nein. Wilhelmine schüttelt energisch den Kopf. Presst die Lippen aufeinander. Sieht Karin an. Zieht entschlossen das letzte
     Register. »Die nimmt mir doch meinen Schmuck weg. Alles. Wenn keiner aufpasst, was die hier treibt!«
    Karin atmet demonstrativ ein und wieder aus. »Herr gott , Tante Minchen, jetzt hör doch …«
    »Und die kriegt auch keinen Pfennig mehr von mir! Für so eine geb ich doch nicht mein ganzes Geld her, die ganze schöne Rente.«
    »Also gut, wie du möchtest.« Karins Lippen werden schmal. »Dann müssen wir sehen, dass wir diese Woche noch einen Platz im
     Bonifatiushaus für dich kriegen. Da wo die Frau Schmidt ist, die kennst du ja.«
    Wilhelmine hebt den Kopf, diesmal nickt sie nicht. Etwas Kaltes wandert durch ihre Arme und Beine.

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