Magnolienschlaf - Roman
Geistergedanken bannt. Die kleine
Perle daran pendelt in einer elliptischen Bahn hin und her, klickert hohl gegen das Kopfteil des Bettes, drei, vier Mal, ehe
ihre Bewegung zu kurz wird, um das Holz zu berühren, und nur das Gewummer des Fernsehers bleibt. Der Fernseher, der sie vor
derlei Erinnerungen hätte retten sollen. Kehrt sich denn alles gegen sie?
Bald darauf öffnet sich die Tür, und das Mädchen kommt herein. Wilhelmine presst die Zähne aufeinander und wendet brüsk den
Kopf zur Wand. Sie wird sie nicht ansehen, nein, das kann sie nicht. So bleibt sie steif sitzen, spürt, dass das Tablett über
ihrem Schoß abgestellt wird, und vernimmt ein nachdrückliches »Guten Appetit«.
»Das ist mein Fernseher!«, entgegnet sie barsch, doch die andere schlägt schon ihre Schritte in die Treppe.
Wilhelmine wirft einen Blick auf das Abendessen. Sie hat ihr Käsebrote gebracht, hat die Brotrinde weggeschnitten, als könne
Wilhelmine nicht mehr kauen. Und harte Eier hat sie daraufgelegt. Wilhelmine hasst harteEier, schon der faulgasige Geruch schnürt ihr den Magen zu. Angeekelt schüttelt sie die wabbeligen Scheiben von den Broten
auf den Bettvorleger und fängt mit spitzen Fingern zu essen an.
»Bring Wasser, ich muss mich waschen, der Doktor kommt gleich. Und frische Wäsche. Rasch, rasch!«
Es ist schon nach neun, Dr. Lobe kommt immer zeitig. Wilhelmine wartet ungeduldig, bis Lisa die gelbe Plastikschüssel mit
Waschwasser auf den Nachttisch gestellt hat, lässt sich Handtücher unterlegen und den feuchten Waschlappen reichen. Wie üblich
wäscht sie sich Gesicht und Hals, fährt sich dann unter die Arme und zwischen die Beine, es geht nicht mehr so gut, vor allem
hinten, da reicht sie kaum hin.
»Geben Sie mir, ich mache das …« Die Russin will nach dem Lappen greifen, doch Wilhelmine reißt ihn an sich.
»Hände weg, ich kann das allein.« Von dieser Person lässt sie sich nicht anfassen. »Drecksrussin«, setzt sie, kaum hörbar,
hinzu.
Für einen Moment steht das Mädchen still, dann nimmt sie Wilhelmine den Lappen weg und beginnt, ihr die Oberschenkel zu schrubben.
» Ich
rieche nicht nach Pipi!«
Wilhelmine schnappt nach Luft, boxt nach der unverschämten Person, doch die packt Wilhelmines Handgelenk und zwingt es in
ihren Griff. Wilhelmine jault auf. Was untersteht sich dieses Weib, so mit ihr umzugehen?Mit aller Kraft presst Wilhelmine die Knie gegeneinander, bis die Russin schließlich aufgibt, ihr das frische Nachthemd überzieht
und mit der Schüssel im Bad verschwindet.
Wilhelmine hört, wie sie das Wasser ausgießt und den Spiegelschrank öffnet. Was, in drei Teufels Namen, hat sie dort zu suchen?
Wilhelmine überschlägt den Inhalt des Schränkchens, ohne sich jedoch erinnern zu können, was dort außer Haarspray noch alles
stehen mag. Der Schrank klappt zu, und Lisa kommt ins Zimmer zurück. Wilhelmine vernimmt ein leises Zischen, noch einmal,
dann riecht sie Parfüm. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass Lisa durch den Raum wandert und die Luft mit Kölnischwasser vernebelt.
Tosca. Das hat ihr Karin zu Weihnachten geschenkt. Und zum Geburtstag. Jedes Jahr bekommt sie zwei neue Flaschen, obwohl sie
gar nicht so viel braucht. Wann benutzt sie schon Parfüm? Lisa kommt näher, drückt wieder auf die Flasche. »So, jetzt riecht
das besser!«
Wilhelmine muss niesen, liegt auf ihrem Kissen und starrt stoisch gegen die Wand, bis das Mädchen wieder nach unten geht.
Wie kann die es wagen, ihr Parfüm anzurühren? Aber so sind sie, da hat sich nichts geändert. Die haben doch nie gefragt, sondern
einfach genommen, was ihnen wertvoll erschien, ganz gleich, ob sie etwas damit anzufangen wussten oder nicht. Nur von den
Pelzen haben sie die Finger gelassen, davon hatten sie selbst genug. Nach und nach ist verschwunden, was nicht rechtzeitig
unter der Matratze versteckt worden ist. Wilhelmines Matratze, der sicherste Ort der Welt, und dass das so sein würde, hätte
sie sich seinerzeit nicht träumen lassen.
Der Wagen des Doktors reißt sie aus ihren Gedanken. Sie kann ihn am Klang von anderen unterscheiden, es hört sich an, als
schüttele man etwas Großes in einer Blechdose hin und her. Sie hört den Doktor klingeln und mit der Russin reden, bevor er
zu ihr nach oben kommt.
»Guten Morgen, Frau Hennemann. Hui, das duftet ja schon richtig nach Frühling hier.«
Wilhelmine knurrt unwillkürlich, sieht dennoch erleichtert dem Arzt entgegen und
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