Magnolienschlaf - Roman
Tage.«
Jelisaweta hebt die Schultern. Bei dem Gedanken, über eine Woche mit der Alten auf sich allein gestellt zu sein, wird ihr
unbehaglich, aber das wird sie sich auf keinen Fall anmerken lassen. Sie sieht Frau Hübner fest an. »Wenn ich vorher gewusst
hätte, wo ich falle, hätte ich Stroh gestreut.«
»Wie bitte?« Es dauert eine Weile, bis Frau Hübner antwortet. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie so reagiert. Das hat sie
noch nie gemacht.«
»Ich bin Russin, aber ich bin genauso Mensch.«
Karin Hübner bewegt den Mund, als kaue sie auf einem Satz herum. »Hören Sie, ich gebe Ihnen ein bisschen was extra pro Monat,
einverstanden?«
»Gut.« Jelisaweta nickt knapp. »Hundert Euro sofort. Und Geld für Handykarte, fünfzig Euro.« Das bist du mir schuldig.
Frau Hübners Brust hebt und senkt sich, scheinbar endlos lange. Dann holt sie ihre Handtasche, klappt den Verschluss nach
oben. »Also gut, von mir aus. Aber sehen Sie zu, dass Sie mit ihr zurechtkommen. Und reden Sie um Himmels willen kein Russisch
mehr.«
»Jawoll, Herr General«, bringt Jelisaweta hervor, schiebt die Geldscheine in ihre Jeans und drückt Frau Hübner den Wäschekorb
in die Hände. Sie sucht in den Zügen der anderen zu erkennen, ob sie zu weit gegangen ist, bereit, noch einmal aufzubegehren.
Doch Frau Hübners erstarrter Blick gleitet an ihr ab, betrachtet beharrlich die Wäschestücke im Korb.
»Alles fertig? Gut, dann brauche ich ja vor unserer Abreise nicht mehr zu kommen. Auf Wiedersehen.« Frau Hübner müht sich
vergeblich, den Korb unter einen Arm zu klemmen und die Hemdenbügel mit der gleichen Hand zu fassen, hakt die Bügel schließlich
in ein Loch des Wäschekorbs. Jelisaweta schiebt die Hände in die Jeanstaschen.
»Brauche ich Geld zum Essen.«
»Ich habe Ihnen doch gerade hundertfünfzig gegeben.«
»Das ist mein Geld, ich habe Kost frei, muss man essen jeden Tag.«
Stöhnend stellt Frau Hübner den Korb wieder ab und öffnet nochmals Ihre Geldtasche. »Mehr habe ich aber jetzt wirklich nicht.«
Sie streckt Jelisaweta drei Zwanziger entgegen.
Jelisaweta hebt die Brauen. »Wünsche schöner Urlaub.« Sie hört noch, wie sich die Haustür öffnet und ein Kleiderbügel auf
dem Parkettboden aufschlägt, kurz darauf fällt die Haustür ins Schloss.
Es dämmert. Von unten dringen Fernsehgeräusche durch die Schächte der Luftheizung, dröhnen dumpf in einem nervenzerrenden
Rhythmus. Was erdreistet sich diese Person, den Apparat einzuschalten? Wilhelmines Apparat, der längst bei ihr im Schlafzimmer
stehen sollte. Sie überlegt, Dieter noch einmal deswegen anzurufen; wenn er erst verreist ist, wird es wieder nicht erledigt.
Erregt suchen ihre Hände nach dem Telefon, doch es ist verschwunden, hat Karin es denn mitgenommen, als sie gegangen ist?
Unten klappt die Toilettentür, wird der Wasserkessel auf der Herdplatte abgesetzt. Etwas fällt klirrend zu Boden. Die Zuckerdose?
Herrgott, die ist aus Silber! Das ist mein Haus, schreit es in Wilhelmine, das sind meine Sachen. Lieber will sie verhungern,
als dieses Mädchen länger hier zu dulden. Wenn sie Karin nur klarmachen könnte, was das für eine ist, ein Teufel im Schafspelz,
zu allem fähig, aber Karin hat ja keine Ahnung. Es drängt Wilhelmine, aufzustehen und das Weibsstück zu verjagen, das ist
doch undenkbar, so eine in ihrem Haus! Doch sie liegt und schweigt, in stummer Wut ertragend, dass die andere sich breitmacht;
lauernd auf jedes Geräusch, das ihr verrät, was dort unten vor sich geht, was die andere im Schilde führt.
Das hat sie damals auch getan, durch das Loch in der Wand war ihr nichts verborgen geblieben, der Teppich hat die Geräusche
kaum dämpfen können, schon gar nicht für Wilhelmines Ohren.
Und plötzlich ist die Erinnerung an jene Melodie wieder da, ein lästiger Ohrwurm, als sei es gestern gewesen.
Ungezählte Male ist der Schlager damals zu ihr gedrungen, ersetzte allabendlich die Nachtigall, die längst verstummt war.
Wilhelmine hat den Spuk kaum noch registriert, nur manchmal, wenn er unvermittelt abriss, weil jemand im Überschwang gegen
das Grammophon gestoßen war. Dazwischen immer wieder Lachen, das wie Ohrfeigen zu ihr klang, Lachen, wild und toll. Getanzt
haben sie, diese Barbaren, lautstark und trunken. Herrgott, nein, sie will nicht daran denken müssen, nichts und niemand soll
sie daran erinnern. Energisch zieht sie an der Kordel der Leselampe, damit das Licht die
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