Magnolienschlaf - Roman
wieder zur Türe hinaus.
»Bah!« Wilhelmine greift nach der Klingel, hält sie gedrückt, bis das Mädchen endlich zurückkommt. »Nimm das sofort weg, ich
esse keine Eier. Mach mir ein Butterbrot. Und einen Apfel will ich dazu.« Ermattet sinkt Wilhelmine in die Kissen, erschöpfter
als nach einem ganzen Tag im Garten. Der Geruch der Eier hängt im Raum und nimmt ihr die Luft.
»Lisa!«
Als niemand kommt, läutet sie wieder. Noch einmal, zweimal. Es dauert, bis das Mädchen erscheint, sie bringt Brot und einen
halben Apfel. »Mach das Fenster auf, hier stinkt es nach deinem Fraß. Wo ist der Rest von meinem Apfel?«
»Ach, ist doch viel zu viel für Sie.« Lisa öffnet die Balkontür weit, es bläst eisig ins Zimmer hinein.
»Ich will aber meinen ganzen Apfel.«
»Erst mal das aufessen.« Der Gleichmut hat verräterischen Schwankungen in Lisas Stimme Platz gemacht.
»Nein, ich will ihn jetzt!«
»Staraja wedma!«
Triumphierend registriert Wilhelmine, wie das Mädchen an der Tür reißt, um sie ins Schloss zu knallen, doch die Tür schabt
nur schwer über den Teppich, wie sie es immer tut, seit Wilhelmine die gelbe Auslegware über das Linoleum hat legen lassen.
Der Wind faucht in Böen, Wilhelmine hört die Tannen rauschen, schaut zum Fenster, durch das Schneeflocken ins Zimmer wehen.
Wieder drückt sie die Klingel, dieses Mal in kurzen Intervallen, bis das Mädchen mit rotem Kopf erscheint und Wilhelmine eine
Handvoll Apfelstücke auf den Teller wirft.
»Mach das Fenster zu, siehst du nicht, dass es hereinschneit?«
Das Fenster lässt sich knallen, Wilhelmine spürt, wie die Scheiben zittern, und schüttelt schnaubend den Kopf. Nein, kein
Respekt vor dem Eigentum. Energisch beißt sie in ihr Butterbrot, dieses Mal ist die Rinde drangeblieben.
»Ich mache Mittagspause bis drei Uhr, kriegst du Windeln an und kannst du klingeln, wie du willst«, erklärt Lisa mit Nachdruck,
öffnet die Tür des Kleiderschranks und wühlt in Wilhelmines Unterwäsche.
Nein, Wilhelmine wird ihr nicht verraten, wo Karin die Windeln hingepackt hat, da kann sie suchen, bis sie schwarz wird.
Lisa öffnet die nächste Tür und gräbt sich mit den Händen durch die Kleider und Kostüme, die auf Bügeln hängen, geht in die
Knie, greift dorthin, wo Wilhelmine die Schuhkartons gestapelt hat. Dann taucht sie wieder auf. Wilhelmines Brust zieht sich
zusammen, die Luft bleibt ihr weg: Wie eine Trophäe hält das Mädchen WilhelminesSchmuckschatulle hoch, die kleine Truhe, die mit taubenblauem Samt bezogen ist. Wilhelmines Kopf fängt ein bisschen an zu
nicken, wie zur Bestätigung, natürlich, das musste ja kommen, was ist von so einer anderes zu erwarten?
»Finger weg.« Wilhelmine knurrt wie ein Hund.
Doch die andere starrt sie mit wildem Blick an. »So. Kriegst du Grund zum Schimpfen!«
Nein, nicht!, will Wilhelmine sagen, aber die Stimme versagt. Schon klappt die Truhe auf, und das Mädchen sieht mit einem
Blick hinein, als krabbelten Käfer über den blauen Samt, stochert mit starrem Zeigefinger darin herum. Schließlich zieht sie
etwas heraus und hebt es triumphierend hoch, etwas Goldenes. Gott sei Dank. Wilhelmine kneift die Lider zusammen: die alte
Uhr mit der kaputten Schließe. Unendlich langsam, beinahe obszön, lässt die Russin sie in ihrer Hosentasche verschwinden.
Wilhelmine atmet auf. Natürlich, eine Armbanduhr, das hätte sie sich denken können.
Sie hatten doch irgendwann alle Uhren, manche sogar drei oder vier an einem Arm. Die mussten eine Art zusätzlichen Dienstgrad
darstellen, mit dessen Hilfe auch die letzten Versager, die sonst ohne Trophäe heimgezogen wären, ein Quäntchen Ehre einzuheimsen
suchten. »Uri, Uri«, haben sie Wilhelmine angeschrien und als Erstes Josefs gute Festa gefunden, sie lag mit seinen Papieren
und den Manschettenknöpfen in der kleinen Schublade der Kredenz, in der, die immer klemmte, also haben sie kurzerhand mit
dem Messer nachgeholfen. Die Kredenz hatte ihr Josef bald nach der Hochzeit anfertigen lassen, aus dunkler Eiche, ganz gerade
und modern.Unter anderen Umständen wären Wilhelmine sicher die Tränen gekommen, aber an Weinen war längst nicht mehr zu denken, das war
auch gestorben, für alle Zeit, wie sie damals schon ahnte.
Freudestrahlend hat einer die Uhr herausgenommen und sie seinem Kameraden gezeigt. Dann haben sie sich über die Manschettenknöpfe
gebeugt, sie von allen Seiten betrachtet und diskutiert. Haben
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