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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Baronsky
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aber das Mädchen wehrt ihre Hand spielend ab; hilflos muss Wilhelmine
     zusehen, wie sie den Schuhkarton mit den Medikamenten herauszieht und unter den Arm klemmt.
    »Gib das wieder her. Das gehört mir, das brauche ich.« Wilhelmine streckt die Hand nach dem Karton aus, doch sie erreicht
     nur die Schulter des Mädchens und bekommt eine Haarsträhne zu fassen. Die aber packt sie, klammert sich an diese letzte Stelle,
     die ihr zu verwunden bleibt,und reißt, spürt den Widerstand, bündelt alle Kraft, hört den schrillen Schrei, den kollernden Fluch, dann sinkt sie zurück,
     erschöpft, und die Russin ist außer Reichweite. Da ist etwas, das sie zum Beben bringt, etwas, das in ihr aufsteigt, und Wilhelmine
     ahnt, dass es Scham ist, Scham sein muss, sie presst die Lippen zusammen und starrt geradeaus.
    »Nu pogodi! Spinnst du wohl! Ich brauche Aspirin, habe Kopfschmerzen von deine Geschrei und kriege noch mehr jetzt!«
    Ehe Wilhelmine etwas entgegnen kann, ist die Russin zur Tür hinaus. Wilhelmine spreizt die Hände, spürt die Haare, die sich
     dazwischenspinnen. Wie hauchfeine Klingen schneiden sie in ihre Haut, dunkle Schokoladenhaare, und sie reibt sie zwischen
     ihren Fingern.

Jelisaweta stampft ihre Schritte in die Treppe, als könne sie ihre Wut damit loswerden, doch als sie in die Küche kommt, schlägt
     ihr Herz noch immer diesen lauten Takt. Sie schiebt den Medikamentenkarton auf den Küchentisch. Beim Anblick der Weinflasche,
     aus der sie gestern wieder getrunken hat, wird ihr etwas übel. Es waren nur anderthalb Gläser, doch sie spürt Kopfschmerzen,
     leicht, aber lästig, wühlt zwischen den Schachteln, findet Aspirin und ein kleines rotes Mäppchen, ein Nageletui. Erleichtert
     dreht sie den Wasserhahn auf, eine winzige Freude macht sich breit. Ihre Nagelfeile hat sie in Smolensk vergessen. Sie wird
     sich die Fußnägel feilen und lackieren, knallrote glänzende Zehen wird sie sich machen, wie diein den Modezeitschriften, auch wenn sie das Ergebnis in ihren dicken Stiefeln wird verstecken müssen. Zu Hause hätte sie es
     erst recht niemandem zeigen können, Mama ist strikt gegen Nagellack, sogar gegen farblosen.
    Jelisaweta schluckt die Tablette, trinkt Wasser nach und geht ins Wohnzimmer hinüber. Mit einem Handtuch, dem roten Mäppchen
     und dem Nagellack lässt sie sich auf dem Sofa nieder. Nachdem sie ihre Strümpfe ausgezogen und sich Küchenkrepp zwischen die
     Zehen gestopft hat, klappt sie das Etui auf. Es sind keine Nagelfeilen darin, sondern Bilder einer Frau mit kleinen Kindern
     an der Hand, Schwarzweißfotos in Plastikhüllen, immer zwei in einer Hülle, mit dem Rücken gegeneinander, zum Umblättern wie
     ein kleines Buch. Die Frau trägt ein gemustertes Sommerkleid, das Haar kurz oder nach hinten gebunden. Ist das Wilhelmine
     Hennemann, die einen Buben in kurzen Hosen und ein kleines Mädchen in einem karierten Kittel an der Hand führt? Jelisaweta
     blättert um, die Frau sitzt auf einem Mäuerchen, die beiden Kinder im Arm, das Mädchen verbirgt sein Gesicht an ihrem Hals.
     Etwas kriecht durch Lisas Brustkorb, füllt ihr Inneres aus, klamm wie Herbstnebel. Wieder das Mädchen, dieses Mal lachend,
     auf dem Schoß der Frau, die es zärtlich umarmt. Die Frau allein, mit schüchternem Ausdruck, als habe sie Scheu vor der Kamera.
     An einer Kette um ihren Hals hängt jenes Kreuz, das Jelisaweta unlängst zwischen den Puddingpäckchen versenkt hat. Wilhelmine
     Hennemann. Jelisaweta betrachtet sie lange, taucht ein in dieses Gesicht, das Gesicht einer Frau von vielleicht vierzig Jahren,
     das ihr dennoch jung erscheint, jung und so voll von Liebe für ihre beiden Kinder.Jelisaweta friert, der Nebel ist überall. Das letzte Bild hat kein Gegenstück, stattdessen sieht man die Rückseite der Fotografie.
Dieter und Monika, 1954.
    Die Küchenklingel schrillt, Jelisaweta springt auf, um nicht zu spät nach oben zu kommen, sie ist jetzt sicher, dass die Alte
     nicht mehr rechtzeitig merkt, wann es Zeit für den Toilettenstuhl ist. Mit dem Papier zwischen den Zehen läuft sie nach oben,
     muss die Füße dabei ganz steif auf jede Stufe setzen, um es nicht zu verlieren. Wortlos betritt sie das Schlafzimmer und hebt
     den alten Körper aus dem Bett, der sich anfühlt wie ein Leinenbeutel, locker gefüllt mit dünnen Bauklötzchen, doch diesmal
     ist ihr, als trüge sie eine andere, eine junge Frau.
     
    Als sie wieder hinunterkommt, wird gerade die Tür aufgeschlossen, Frau Hübner tritt

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