Magnolienschlaf - Roman
an, die keinen Zentimeter weicht, erst als Wilhelmine mit der Hand
in ihre Richtung wedelt, verschwindet sie ins Badezimmer.
»Tante Minchen? Bist du dran? Hallo?«
»Ach, Karin.« Sie seufzt vor Erleichterung. »Wann kommst du?«
»Minchen, was machst du denn für Sachen? Du kannst doch nicht mit dem Essen herumwerfen, das tut man doch nicht, hörst du?«
Wilhelmine presst die Lippen zusammen.
»Minchen?«
Sie weiß, dass das Mädchen hinter der angelehnten Türe steht.
»Und hör um Gottes willen auf mit deinen Räuberpistolen. Kein Mensch will an deine Kronjuwelen.«
»Aber …« Die Worte bleiben ihr im Hals kleben.
»Tante Minchen, bitte, du machst das Mädchen ja ganz fertig mit deinen Anschuldigungen. Sei lieb und lass die Dummheiten,
die Lisa hat dir nichts getan. Hörst du? Du sollst essen, was sie dir bringt. Hast du verstanden? Tante Minchen?«
Wilhelmine legt den Telefonapparat auf die Decke, sie nickt, mehr zu sich selbst denn zu Karin, ihr ist, als stünden beide
am Fuß ihres Bettes, Karin und die Russin, die eine zur Rechten, die andere zur Linken, und schauten Wilhelmine an.
Karin erscheint nicht. Am Mittag nicht und auch nicht am nächsten Morgen. Die Russin trägt das volle Tablett und einen triumphierenden
Blick aus dem Zimmer. Erst nachdem das Geschirrklappern unten verstummt ist, hört Wilhelmine das Auto, es fährt in die Einfahrt,
also ist es Dieter, der fährt, Karin parkt immer auf der Straße, die Pfosten stehen ihr zu eng.
Das Klackern der Haustür ist kaum zu vernehmen, Dieter schleicht sich herein, sie soll ihn nicht hören, aber sie hört ihn
immer. Und immer hat sie dabei das Gefühl, als fülle jemand ihr Inneres mit Kaltwasser auf. Er spricht mit dem Mädchen, sie
wechseln nur wenige Worte, dann ist er fort.
Sie hat nicht nach ihm rufen wollen, nein, betteln wird sie nicht. Das hätte ohnehin keinen Zweck bei Dieter, er ist wie eine
Nebelbank, so fest man auch zupackt, man greift ins Leere. Als Kind, da war er anders, der Dieter, da war er kompakt und irdisch,
ein Kind zum Festhalten. Sie sieht ihn durch den Hof rennen, in seinen kurzen Lederhosen, die Knie rotwund, der Rest braungebrannt,
Lachen im Gesicht. Die Kinderstimmen hallen zwischen den Hauswänden, ein Grundgeräusch, das über Jahre anhält.
Tante Mine, rufen sie, und Wilhelmine krabbelt auf Knien in das Papphäuschen, das sie gebaut haben, ein umgedrehter Eimer
steht als Tisch darin, Wilhelmine breitet ihr Taschentuch aus und stellt den Kuchenteller darauf. Es ist eng, Dieter klettert
auf ihren Schoß, und sie füttert ihn mit Apfelkuchen, Leuchten in den Augen, ein klebriger Kinderkuss. Du bist die Liebste,
Tante Mine. Meine Allerliebste auf der ganzen Welt.
Irgendwann ist das feste, sonnenbraune Kind fort, langsam davongeweht, alles an ihm ist blasser geworden und dünner, so viel
dünner. Du musst doch was essen, Kind, ruft sie ihm über die Treppe nach, doch sie hört ihn nur nörgeln, und dann ist er in
sein Zimmer verschwunden, mit einem seiner Freunde, die haben sich auch verändert, allesamt. Also bringt sie den Kuchennach oben, stellt ihn auf das Fensterbrett, lächelt, streicht dem Jungen über das Haar. Jäh fährt er herum, wehrt mit hartem
Schlag ihren Arm! Jetzt hör doch endlich auf damit, verdammt!
Herr Hübner geht so geräuschlos, wie er gekommen ist, indem er die Tür mit Hilfe des Schlüssels von außen ins Schloss gleiten
lässt. Jelisaweta beobachtet durch das Blumenfenster, wie er in den Golf steigt und davonfährt, fragt sich, ob er Angst hat
vor der Tante oder ob die Alte ihm nur einfach lästig fällt.
Eine Weile betrachtet sie die grünen Geldscheine, die er ihr gebracht hat. Das ist gutes Papier, fest, sauber, wertvoll. Nicht
so dünn und abgegriffen wie die Rubel, die wie trockenes Laub zwischen den Fingern knistern, dass man Angst haben muss, sie
zu zerbröseln. Wenn die Tante schläft, wird Jelisaweta zum Postamt gehen. Sie weiß, dass Mama, sobald das Geld ankommt, wieder
anrufen wird und tun, als sei nichts geschehen. Mit leisen Schritten steigt sie nach oben, um nach der Alten zu sehen. Welche
Summe soll sie überhaupt nach Hause schicken?
Frau Hennemann schläft. Während Jelisaweta Jacke und Schuhe anzieht, bedauert sie zum ersten Mal, dass es zu regnen aufgehört
hat.
Als sich Jelisaweta auf dem Postamt nach den Kosten für einen Geldbrief nach Russland erkundigt, nennt ihr der Mann am Schalter
eine Summe, für
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