Magnolienschlaf - Roman
liest etwas von Antrag
auf Urlaubspflege und Pflegeperson, liest Zahlen und Daten und kann sich keinen Reim darauf machen. Sie lässt den Brief sinken,
wenn nur Karin da wäre, es ist gut, dass Karin sich um alles kümmert, das kann Wilhelmine doch alles nicht mehr. Dann fällt
ihr Blick auf das Wort. Wilhelmine hält inne,nimmt den Brief wieder auf, schaut genauer hin, ganz genau dieses Mal.
»Aber ich hab doch gar keine …« Ihr wird warm und kalt gleichzeitig, Gedanken drängen sich: die Rente, der Mann von der Kasse,
Karin, das Mädchen, die Kontovollmacht … ach Gott! Es dauert, bis sie begreift.
Wilhelmine atmet tief, sie schließt die Augen, doch der Kopf gibt noch immer keine Ruhe. Als sie endlich die Brille zurechtrückt
und zu Ende liest, ist ihr beinahe, als täte sie etwas Verbotenes.
Pflegestufe zwei. Sie zittert. Zwei! Seit beinahe einem Vierteljahr. Wilhelmine weiß Bescheid, damit kennt man sich aus, wenn
man so alt ist wie sie. Pflegestufe zwei. Sie nickt. Über achthundert Mark bekommt man da, oder nein, jetzt ist es ja weniger,
es gibt ja das neue Geld. Sie sieht Karin vor sich, und das Bett beginnt zu schwanken.
Das wird teuer, diese Pflege, hat Karin gesagt und ganz steif geguckt. Am besten, wir buchen die Rente runter von deinem Konto,
Minchen, das ist das einfachste, dann brauchst du dich um nichts mehr zu kümmern, und hat ihr den Zettel von der Bank zum
Unterschreiben gegeben. Was du brauchst, bekommst du ja von uns.
Die ganze Rente. Beinahe zweitausend Mark! Aber Minchen hat genickt, das ist ja alles so teuer geworden, heutzutage. Und die
Rechnungen, was ist mit den Rechnungen? Wie soll ich denn das alles bezahlen?
Lass mal, Minchen, das machen wir schon, der Dieter erledigt das, du kannst doch sowieso nicht mehr zur Bank laufen.
Wilhelmine starrt den Brief an, sieht immer wiederauf das Wort, Pflegestufe zwei, und ihr ist, als schwämme sie durch kaltes Wasser. Für Karin ist es bares Geld, für Wilhelmine
wird jetzt erst die Bedeutung klar, jetzt, da es sie so plötzlich eingeholt hat. Pflegestufe. Das ist wie ein Etikett, das
man nicht mehr wegbekommt. Es klebt an einem wie die vielen anderen, die man im Laufe seines Lebens sammelt. Ein Schulkind
sein. Eine Frau werden. Verheiratet sein. Kinder haben, ja, das auch. Witwe sein. Es ist jedes Mal, als käme man in eine neue
Klasse, mit dem Unterschied, dass man sich auf die Etiketten zu Beginn des Lebens freut, während diejenigen, die einen am
Schluss erwarten, nur schmerzhafte Brandmale sind. Die letzten Stufen auf dem Weg unter die Erde. Zwei. Das ist verdammt nah
dran. Und wie seit langem nicht mehr fängt sie an zu rechnen, zaghaft, als seien die Gedanken aus Glas. Einundsiebzig wäre
sie geworden, im letzten Herbst. Einundsiebzig, Gott im Himmel, da sind viele auch längst nicht mehr.
Es klirrt im Badezimmer, und Wilhelmine schrickt zusammen. Das muss das Zahnputzglas gewesen sein, die Russin hat es runtergeworfen.
Die Russin. Wilhelmine hält noch immer den Brief in der Hand. Der Brief. Das Geld. Mit einem Mal herrscht Aufruhr in ihrem
Kopf, ihr wird schwindlig, einem solchen Durcheinander ist sie nicht mehr gewachsen.
»Komm her!«
Das Mädchen erscheint in der Badezimmertüre, ihr Blick weicht aus. »Entschuldigung, ich …«
»Wie viel zahlt Karin dir?«
»Wie bitte?«
»Karin. Wie viel Geld bekommst du von ihr?«
Die Russin sieht sie an, zögert, ein bisschen zu lange, das merkt Wilhelmine genau.
»Sechshundert für ein Monat.« Trotz klingt durch ihre Stimme.
»Warum lügst du?«
»Lüge ich nicht, sechshundert. Aber noch hundert extra, weil du immer böse bist!«
Wilhelmine gibt keine Antwort. Sie nimmt den Brief und faltet ihn zusammen, einmal, zweimal, dreimal, bis es nicht mehr geht,
birgt ihn in ihren hohlen Händen, das letzte Stück Welt, das sie noch zu fassen bekommt. Irgendwann hört sie die Russin mit
dem Putzeimer treppab laufen, später dröhnt der Fernseher, ihr Fernseher, und das rhythmische Gewummer nimmt ihr die Luft.
Wie ein Kapitän bleibt sie liegen, auf ihrem Schiff; die Kajüte haben sie noch verschont, aber der Kahn reist längst unter
fremder Flagge.
Sie kommt noch einmal wieder, die Russin, kniet sich vor Wilhelmines Nachttisch und wühlt darin herum.
»Was suchst du da? Nein!« Wilhelmine kann keine Rücksicht mehr nehmen, ungebremst schlägt sie nach dem Russenweib. »Lass das!«
Wilhelmine versucht, das Schranktürchen zuzudrücken,
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