Magnolienschlaf - Roman
die sie gut zweimal ins Kino gehen könnte. Sie dankt und geht davon. Verwundertüber ihre Erleichterung – oder ist es Schadenfreude –, schreibt sie eine Postkarte. »Geld schicken ist zu teuer, bringe im
Mai alles mit.« Mama wird eben noch eine Weile warten müssen. Als sie die Karte in den gelben Kasten steckt, wird ihr klar,
dass Mama ihr ganzes Leben nichts anderes getan hat, als zu warten. Worauf eigentlich? Mama wird auch irgendwann verrückt
werden, so wie Babka. Und erwarten, dass Jelisaweta genauso bei ihr ausharrt, wie sie es einst getan hat. Noch stehen mehr
als zwei Monate wie ein dickes Polster zwischen ihnen, doch es wird dünner, jeden Tag ein winziges Stück.
Jelisaweta bleibt vor dem Drogeriemarkt stehen, zögert, geht schließlich hinein. Sie kommt sich kühn vor, ein bisschen ist
es, als sei sie eine Maschine, in der ein neues Programm läuft. Durch die Regalreihen steuert sie bis zur Kosmetikabteilung
und macht vor den Nagellacken halt. Greift nach einem schönen leuchtend-satten Rot. Wie Klatschmohn, denkt sie und geht zur
Kasse, ohne auf den Preis zu schauen; es ist wie eine Mutprobe, und Jelisaweta ist erstaunt, wie leicht es geht. Sie reicht
der Kassiererin einen Fünfziger, nimmt das Restgeld und spürt etwas, das sich wie Triumph anfühlt. Ein Sieg ohne Kampf. Mit
leichtem Zittern im Herzen tritt sie den Rückweg an und überlegt, ob sie dieser Tage einmal in die Stadt fahren sollte.
Die Mülltonne vor dem Haus steht schräger als am Morgen, offenbar ist sie geleert worden. Als Jelisaweta zur Bestätigung daran
rüttelt, taucht neben ihr die Briefträgerin auf und drückt ihr freundlich lächelnd zwei Briefe in die Hand.
»Darf ich Ihnen das gleich mitgeben? Dann muss ich nicht extra zum Haus laufen. Danke.«
Jelisaweta nickt, wirft einen Blick auf die Umschläge und rollt die Tonne zur Garage zurück.
Immer wieder ist an diesem Vormittag das hohle Gepolter der leeren Mülltonnen zu hören, die von der Straße geräumt werden.
Jetzt ist ihre eigene an der Reihe, Wilhelmine kennt das Geräusch, das die Tonne verursacht, wenn sie über den Plattenweg
gezogen wird. Also ist das Mädchen zurück, Wilhelmine wartet auf das Klacken der Haustür, auf das Rauschen der Wasserleitung,
wenn sie ihr Teewasser aufsetzt. Gleich wird sie hochkommen, ihr wortlos einen Becher und Kekse aufs Tablett stellen und Wilhelmine
wieder allein lassen. Und plötzlich muss Wilhelmine an Frau Schmidt denken, die sie im vergangenen Jahr noch im Bonifatiushaus
besucht hat. Wann hat sie selbst zuletzt Besuch bekommen? Die Tochter von der Frau Rademacher ist da gewesen, im Advent, hat
ihr Pralinen geschenkt und alles Gute gewünscht, sonst fällt ihr niemand ein. Sind ja längst alle tot. Sogar die Jüngeren,
Lenchen Janson und die Frau Meckel, mit der sie früher immer zum Abonnementkonzert gegangen ist.
Als sich die Türe öffnet, klammert Wilhelmine ihren Blick an der Vorhangschiene fest und presst ihre Lippen aufeinander.
»Da, haben Sie Briefe gekriegt.« Die Russin legt etwas auf Wilhelmines Bettdecke ab. Verwundert schaut Wilhelmineauf, erst dann fällt ihr ein, dass sie keine Reaktion vorgesehen hatte, und will wegsehen, doch ihre Neugier überwiegt. Zwei
Umschläge, ungeöffnet, mit Adressfenster und Stempel, Briefe wie diese hat sie nicht mehr in der Hand gehabt, seit Karin sich
um alles kümmert. Nur die handgeschriebenen bringt sie herauf, aber das kommt doch so selten vor.
»Das sind meine!« Rasch greift sie danach. »Was hast du mit meiner Post zu schaffen?« Ob Karin dem Mädchen den Briefkastenschlüssel
überlassen hat? Das darf Karin nicht! Wilhelmine muss sie anrufen. Unbedingt.
»Hab ich gar nichts zu schaffen, hat mir Postlerin gegeben.« Kopfschüttelnd klappt das Mädchen den Bettvorleger zusammen und
trägt ihn zur Balkontür.
Frischer Wind fegt ins Zimmer. Wilhelmine tastet nach ihrer Lesebrille, versucht, einen Bügel als Brieföffner zu benutzen,
doch sie bekommt ihn nicht hinein, stochert eine Weile herum, reißt schließlich eine Ecke des Umschlags ab und zerrt ihn dann
ganz auseinander. Sie setzt die Brille auf und holt das Schreiben heraus. AOK steht darüber. Die Gesundheitskasse. Wilhelmine
schnaubt, lässt den Brief sinken, das ist ihre Krankenkasse, über die sich Karin so hat ärgern müssen, keinen Pfennig wollen
sie zahlen dafür, dass Wilhelmine hier liegt und versorgt werden muss. Sie faltet den Brief auseinander,
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