Magnolienschlaf - Roman
Mamas Atem ist nicht zu hören, nur die unheimlichen
Laute, unvermittelte kurze Rufe, die Jelisaweta nicht verstehen kann. Mamas Bett ist noch immer kalt und leer.
Dann hört Babka auf zu schreien, und nun beginnt auch die Stille sich wie zäher Leim in der Wohnung auszubreiten. Jelisaweta
kann fühlen, wie sie durch die Tür quillt, ein hohes Summen, das durch alle Ritzen, in alle Räume dringt. Es wird nicht lange
dauern, bis die Stille Jelisawetas Bett erreichen und sich erbarmungslos über sie hermachen wird. Nur unter die Bettdecke
kann sie nicht, die hat Jelisaweta wie eine Mütze über sich geschlungen, lediglich das Gesicht schaut heraus. Zitternd achtet
sie darauf, dass die Höhle an keiner Stelle offen bleibt. So verharrt sie.
Manchmal hat der Schlaf ein Erbarmen mit ihr, meist aber bleibt ihr nichts übrig, als zu warten, bis Mama den Schlüssel umdreht
und die Wohnung unvermittelt wieder ins Leben holt. Nur selten stellt Jelisaweta sich schlafend, denn Mama soll sich auf die
Bettkante setzen,damit Jelisaweta ihre Arme um ihren Hals legen kann. Mama riecht dann ganz laut nach Zigarettenatem, totem Parfüm und etwas
Erwachsenem. Ein Geruch der Erleichterung, der Jelisaweta endlich schlafen lässt.
Aber heute nicht, heute muss Mama wieder ins Badezimmer, Babka will das so. Jelisaweta hört das Wasser in der Wand rauschen,
und Babkas Stimme klingt in Fetzen herüber, erst unverständlich, bald immer deutlicher. Vorsichtig tappt sie zur Tür, öffnet
den Spalt so weit, dass sie in den Korridor schlüpfen kann. Aus dem Bad fällt ein Lichtstreif auf den Flurboden.
»Hör doch auf, bitte.« Mamas Stimme ist schrill, Jelisaweta kämpft mit dem Weinen, wenn Mama so jammert. »Lass mich los, ich
bin müde, ich will schlafen.«
»Ab, rein mit dir! Rasch, zieh dich aus.«
Babka redet wieder so schnell. Vielleicht, denkt Jelisaweta manchmal, hat Babka sich nur verkleidet und ist in Wirklichkeit
eine Hexe. Jelisaweta hat Mama danach gefragt, aber die hat sie ausgeschimpft und ihr verboten, je wieder so etwas zu sagen.
Mama hat Angst vor Babka. Mama wimmert. Babka will, dass Mama sich in die heiße Badewanne setzt, das will sie immer, wenn
Mama spät nach Hause kommt. Deswegen kommt Mama auch jedes Mal ganz leise, und Jelisaweta darf nicht nach ihr rufen, damit
Babka nicht wach wird.
Jelisaweta wagt nicht, näher an die Badezimmertür heranzutreten, sie zittert, und die Wohnung fühlt sich nur wenig besser
an als vorher, bevor Mama gekommen ist.
»Das muss weg, das muss weg!« Babka sagt es wieder und wieder.
»Bitte, ich hab doch nichts getan!«
»Ach, was weißt denn du, das muss jetzt sein. Ich weiß das.«
Wenn Babka so komisch redet, bekommt Jelisaweta noch mehr Angst. Rückwärts schleicht sie zurück ins Zimmer, versteckt sich
unter der Decke, zieht sie wieder über den Kopf. Irgendwann wird das Wasser aufhören zu rauschen, dann wird Mama verstohlen
ins Zimmer kommen und sich hinlegen, aber Jelisaweta wird sich schlafend stellen. Mama wird noch eine Weile leise weinen,
dass es Jelisaweta weh tut, drinnen in der Brust. Und morgen wird alles so sein wie immer.
Auch am nächsten Morgen vernimmt Jelisaweta nichts als gelegentliches, leises Geheul.
Noch vor dem Mittag klackt das Schloss der Haustür, und Frau Hübner schiebt zwei volle Wäschekörbe in die Diele. Kaum dass
die Tür zugefallen ist, hält sie inne und neigt den Kopf zur Seite. Jelisaweta spürt den Argwohn, der in ihrem Blick liegt.
»Was ist los da oben? Weint sie etwa?«
Jelisaweta müht sich um ein sorgloses Gesicht. »Ja, glaube ich schon, ich weiß auch nicht, warum.«
»Seltsam …« Nachdenklich hebt Frau Hübner einen Korb an. »Ich hätte geschworen, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nicht
geweint hat.«
Jelisaweta greift nach dem zweiten Korb und folgt Frau Hübner ins Esszimmer. Die sieht sich mit kritischem Blick um. Wie eine
Aufseherin im Gefängnis, fährt es Jelisaweta durch den Sinn. »Bin ich eigentlich erste Krankenschwester, was hier ist, oder
war schon einer da?«Zögernd fügt sie hinzu: »Jemand, der heißt Gisela, vielleicht?«
»Nein, vor Ihnen war niemand hier, sie war ja vollkommen selbständig, vor ihrem Sturz im vergangenen Herbst. Nur eine Putzfrau,
aber die hieß anders. Warum fragen Sie?«
»Ach nur so. Sie ruft manchmal Gisela, habe ich das Gefühl, sie verwechselt mich … Wissen Sie, wer Gisela ist?«
»Keine Ahnung, ich kenne keine Gisela. In
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