Magnolienschlaf - Roman
ihr, als hallten ihre Worte durch
den Raum. »Und morgen musst du essen und übermorgen. Dann kriegst du Kette wieder.« Behutsam erhebt sich Jelisaweta, und im
Hinausgehen kann sie den entrüsteten Atem der Alten hören. Sie bleibt stehen, lauscht, sieht sich um. Hat die Alte tatsächlich
Drecksrussin gesagt?
Als Jelisaweta die Treppe hinuntersteigt, fällt ihr Babka ein, damals, im Hospital …
Die ganze Stadt ist graublau. Nicht tiefblau wie an den blitzsauberen Frühlingsabenden, sondern so, als hätte jemand seinen
schwarzbraunen Pinsel in blauem Tuschwasser ausgespült. Die Fenster des Trolleybusses sind beschlagen, Jelisaweta hat unterwegs
versucht, mit dem Finger Männchen darauf zu malen, aber ständig sind Tropfen durch das Bild gelaufen und haben alles verdorben.
Das Trittbrett ist so hoch, dass Jelisaweta springen muss. Sie wünscht sich, dass Mama ihr die Hand hinstreckt, doch Mama
trägt die Tasche mit Babkas Wäsche und hat die freie Hand in die Manteltasche gesteckt. Sie wartet nur, bis Jelisaweta an
der Türkante Halt gefunden hat und herabhüpfen kann.
Der Gang im Krankenhaus ist so lang wie eine Straße, Jelisaweta will rennen, aber Mama hält sie am Ärmel zurück und schimpft.
Sie dürfe nicht so einen Krach machen, sagt Mama, dabei ist niemand zu sehen.
Nachdem Mama an eine Tür geklopft hat, betreten sie einen Raum mit wenig Licht und vielen Betten. Esriecht noch schlimmer als in Babkas Zimmer daheim, vielleicht, weil hier so viele alte Frauen sind. Sie röcheln und schnaufen.
Ganz hinten am Fenster liegt Babka. Ihre Haare sind länger als sonst, aber sie sehen trotzdem weniger aus. Mama nickt Babka
zu, räumt eine Schachtel mit Gebäck in ein kleines Schränkchen und schiebt die Tasche unter das Bett. Jelisaweta hält die
Luft an. Erst als es unvermeidlich wird, atmet sie ein. Nicht durch die Nase, um es nicht riechen zu müssen, sondern durch
den Mund. Auch das ist eklig, sie stellt sich vor, wie die Stinkeluft über ihre Zunge leckt, hockt sich auf den Boden und
atmet durch den Stoff ihrer Jacke.
»Jelisaweta! Steh auf und sag Babka guten Tag!«
Jelisaweta bleibt am Boden hocken und quetscht den Gruß durch den Jackenstoff. Sie sieht Mamas Hosenbeine durch das Zimmer
laufen, Mama schleppt einen Hocker heran und setzt sich neben Babkas Bett.
»Ich bins. Tonja.«
»Mir ist kalt«, antwortet die Babka. »Bring mehr Holz herein.«
Mama sagt nichts mehr, aber das ist immer so, wenn sie reden, sie sagen ein paar Worte, dann schauen sie schweigend im Raum
umher, jede in eine andere Richtung.
Jelisaweta legt den Kopf in den Nacken und betrachtet die scharfe Wellenlinie, die von der Unterkante der Gardine geformt
wird, alles Darüberliegende sieht verschwommen aus. Jelisaweta kann ihre Augen umschalten. Dann sieht sie die Vorhangschiene
an der Zimmerdecke deutlich, die Wellenkante dagegen verschwommen. Sie schaltet ein paarmal hin und her, bis ihr schwummrigwird und sie die Lider schließen muss. Über der Gardine hat sie ihre Atemmaske vergessen. Sie wundert sich, dass es nicht
mehr stinkt. Stattdessen dringt der Geruch von Gebäck zu ihr durch. Sie stellt sich vor, dass ihre Knie die Füße wären, zieht
die Unterschenkel an und stelzt auf Knien zu der Gebäckschachtel auf dem Nachttisch.
»Steh auf, Lisaweta, du machst deine Hosenbeine ganz schmutzig!«
Die Tür geht auf, und ein Mann kommt herein. Er trägt schneeweiße Hosen. Jelisaweta starrt an ihm hinauf. Sie hat noch nie
schneeweiße Männerhosen gesehen.
»Steh auf!«, zischt Mama, und diesmal ist es ein Befehl.
Jelisaweta leistet ihm Folge, versteckt sich aber hinter Mamas Rücken, damit Babka sie nicht sieht, sie nicht zu sich ruft,
nicht wieder an ihrem Gesicht herumfingert und ihr nicht wieder die Geschichte erzählt, vor der sich Jelisaweta so graust.
Der Mann mit den weißen Hosen stellt eine glänzende Schüssel mit Sachen auf dem Bett ab und schlägt Babkas Bettdecke zurück,
so dass man ihre Beine sehen kann; sie erinnern Jelisaweta an die bleichen Suppenhühner, die Mama manchmal nach Hause bringt
und deren kalte, dicke Haut man hin- und herschieben kann, als gehöre sie nicht zu den Knochen darunter. Babkas Hühnerbeine
mit den violetten Linien fangen zu zittern an. Der Mann zieht Babkas Unterhose herunter.
»Geh weg, geh weg!«, schreit die Babka und tritt nach ihm. Der Mann in der weißen Hose flucht vor sich hin, Mama versucht,
Babkas Bein
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