Magnolienschlaf - Roman
Kaffeewasser
kocht, nimmt sie ihn wieder heraus, trägt ihn ins Wohnzimmer und legt ihn in die herzförmige kleine Silberdose, die hinten
im Wohnzimmerschrank steht.
Wilhelmines Hand fährt mit hektischen Bewegungen die Bettritze entlang, greift nach der Kante der Matratze, doch die gibt
keinen Halt. Das Wasser steigt. Die Bilder branden über sie hinweg, sie folgen keiner Ordnung mehr, reißen in wildem Tumult
die Barrikaden mit sich. Die Taube. Die darf niemand berühren, und Wilhelmine ist, als hätte sie selbst sich die Finger daran
verbrannt.
Die Taube. Die gehört nicht in diese Welt, die hat er ihr geschenkt, damals, zwei Tage bevor er loszog. Die Zuversicht stand
ihm wie Tünche im Gesicht, als er ihr die Kette umgelegt hat. Ich hab doch noch gar nicht Geburtstag, hat sie gesagt, und
ihre Augen haben so dunkelgeglänzt wie ihr Haar. Weiß ich doch, hat er gesagt, aber wir tun man eben so. Er muss ihr zugezwinkert haben, denn sie haben
gleich losgeprustet, alle beide, wie auf Befehl. Wilhelmine hat danebengestanden und nicht darüber lachen können, er hat doch
den Bescheid schon in der Tasche gehabt. Aber so sind sie gewesen, die beiden, konnten über jeden Blödsinn lachen, mitten
in der ärgsten Not. Manchmal haben sie getan, als wäre noch jemand im Raum. Wenn Wilhelmine beim Essen über einen Soßenfleck
geschimpft hat, haben sie nur noch mit dem Herrn Doktor Soßenfleck geredet und ihm sogar einen Teller hingestellt. Darüber
haben sie so gelacht, dass Wilhelmine irgendwann mitlachen musste, wenn es auch nicht wirklich ihr Lachen war, es gehörte
ihnen beiden, das hielt sie zusammen. Zwei Tage später war er fort. Wilhelmine zerrt am Bettlaken, ohne die Augen zu öffnen,
reißt den Saum unter der Matratze hervor.
Das Bett. Bläulich blinkt das Silber im Mondschein, Wilhelmine ist kalt, die Kälte packt ihren Körper, als hätte man ihr die
Decke weggezogen. Die Fenster! Das sind die kaputten Fensterscheiben, da bläst die Nachtluft herein. Zumachen! Jemand muss
sie zumachen, aber es kommt niemand. Das Kind wird erfrieren, wenn sie doch nur eine Decke hätte, sie streicht ihr übers Haar,
rollt sich zur Seite, wo die Kleine jetzt statt seiner liegt, rollt sich auf den schmalen Leib, wird das Kind mit ihrem Körper
wärmen.
Als sie erwacht, ist es dunkel, sie tastet nach ihrer Hand. Das Laken ist kalt und glatt. Und mit längst vergessener Kraft
bahnt sich das Leid seinen Weg, bricht ausWilhelmine heraus, schüttelt ihre Brust, krümmt ihren Leib, endlich und bar jeder Zügelung.
Immer wieder ist ihr, als riefe die Alte, doch wenn Jelisaweta an der Treppe horcht, vernimmt sie nur das unheimliche Gestammel,
angstvoll und schrill. Es liegt etwas so Wirres, Wirklichkeitsfernes darin, dass Jelisaweta Schauer über den Rücken laufen.
Mit Überwindung schafft sie es nach oben, stellt das Abendbrot ab, hat sogar ein paar Kekse dazugelegt, doch die Alte liegt
nur matt in den Kissen und rührt nichts an. Ihre Augen sind glasig und rot, als habe sie geweint. Sie sträubt sich, auf den
Stuhl gesetzt zu werden, und Jelisaweta ist erstaunt, wie schwer die zierliche Neunzigjährige auf einmal sein kann.
In der Nacht wird Jelisaweta mehrmals geweckt, markige Schreie aus höchster Not, sie springt auf, findet die Alte quer im
Bett, in den Händen den Zipfel der Bettdecke, die auf den Boden herabhängt. Behutsam dreht Jelisaweta den morschen Körper,
deckt ihn zu und wartet eine Weile. Kaum ist sie eingeschlafen, weckt die Alte sie von neuem, doch dieses Mal zieht sich Jelisaweta
die Decke über die Ohren und versucht, das Geschrei zu ignorieren, bis es irgendwann in ihre eigenen Träume übergeht …
Die Schreie zerreißen die Nacht. Jelisaweta wagt nicht, sich zu bewegen. Ihr Bett ist eine Insel. Ringsherum dunkles Meer,
ein gefährliches Terrain, unsicher und unheilvoll.Durch einen strichdünnen Spalt zwischen den Vorhängen quetscht sich Laternenlicht ins Zimmer; man kann die Konturen der Möbel
sehen, die Umrisse der Bilder an der Wand, doch das sind keine Stühle mehr und kein Schrank, sondern die Bewohner einer unheimlichen
Welt in Schwarzweiß. Jelisaweta weiß, dass es eine lebendige Welt ist. Sie weiß das, obwohl sich nichts bewegt. Nicht, solange
man hinsieht. Das Zimmer, die dunkle Wohnung, alles ringsumher wird zu einem finsteren Wesen, das immer näher rückt, sich
wie ein Ring um Jelisaweta zusammenzieht und sie zu verschlingen sucht.
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