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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Baronsky
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steht das Wort vor Jelisaweta und schweigt. Ein fremdes Wort, alt und seltsam fern. Ein Wort wie eine verstaubte Kiste, die
     unbenutzt im Keller steht.
    Jelisaweta gießt Teewasser auf und denkt an die Abende, an denen sie allein durch den Gorodski Park gegangen ist, mit festem
     Schritt, doch ohne Hast und ohne jede Angst. Mama hat ihr verboten, je dort entlangzugehen, wenn es dunkel ist. Jelisaweta
     hat sich nie daran gehalten, denn auf ihr Warum hat Mama keine Antwort gehabt.
    Nie zuvor hat sie ernsthaft über diesen Begriff nachgedacht, nasilije, Vergewaltigung. Ohne es zu wollen, sieht sie den mürben
     Frauenkörper vor sich, der im Zimmer über ihr liegt, die welke, schlaffe Haut, denkt an den Geruch von Urin und Verfall, der
     immer gleich ist, sei es hier oder im Krankenhaus daheim. Sie spürt noch die knöcherne Hand, die zitternd und pergamenten
     auf der ihren liegt, und versucht alles mit den Bildern aus dem roten Album in Einklang zu bringen, mit den Bildern der jungen
     Frau im Sommerkleid.
    Sie haben sie vergewaltigt. Ihren Mann erschossen und sie vergewaltigt, denkt Jelisaweta, und der Gedanke bleibt ihr fremd.
     Im Krieg. Russische Soldaten haben sie vergewaltigt, und das trägt sie mir nach. Sechzig Jahre später. Ärger steigt wie ein
     wütender Zwerg in ihr auf.
    Der Drang, die Joggingschuhe anzuziehen und in die feuchtkalte Nacht hinauszurennen, bis die Erschöpfung alle Unruhe zunichtemacht,
     wird beinahe übermächtig,aber sie wagt nicht, Frau Hennemann allein zu lassen. Stattdessen klopft sie auf die Sofakissen ein, bis sie prall in Reih
     und Glied liegen, streunt ziellos durch das Erdgeschoss und kippt schließlich Mehl und Eier auf den Küchentisch, um daraus
     Nudelteig zu kneten, klopft auf ihn ein, zerrt ihn auseinander und schlägt ihn auf die Tischplatte. Hüllt ihn in Folie und
     wirft ihn in den Kühlschrank.
    Sie kann die Treppe zum Schlafzimmer jetzt nicht hinaufsteigen, obwohl die Alte sicher längst schläft. Es ist das gleiche
     beklemmende Gefühl, die gleiche Scheu, das gleiche Grauen wie damals, als sie noch klein war, damals, vor Babkas Zimmertür.
    Erst spät in der Nacht schleicht Jelisaweta, unendlich langsam, die Treppe empor, nah an der Wand, dort, wo die Stufen nicht
     knarren; tappt dann auf leisen Sohlen zu dem blassgrünen Zimmer.
    So wie damals, denkt sie und schließt die Augen, unter ihren Fingerspitzen das Phantomgefühl der gestreiften Tapete. »Dawai,
     dawai!«
     
    »Jelisaweta! Jelisaweta soll hereinkommen.«
    Es wird schon finster, die Babka in ihrer weiten Wolljacke sieht aus wie der Schatten einer Matrjoschka. Jelisaweta kann Babkas
     Gesicht kaum erkennen, erst wenn sie eine Weile bei ihr im Dunkeln gesessen hat, wird sie darin Furchen ausmachen können.
     Also setzt sie sich in den Sessel, lauscht und wartet auf das schaurig-schöne Gruseln.
    »Es war einmal ein Puppenschnitzer, sein Name war Fritz«, beginnt die Babka jedes Mal, und ihre Augen guckenganz groß in die Luft, »der lebte allein im Wald. Er verstand es, die schönsten Puppen zu schnitzen und sie zu bemalen, mit
     Augen und Händen und Schürzen. Er selbst aber war grob und hässlich und böse wie alle Puppenschnitzer. Eines Abends, als er
     zu viel Wodka getrunken hatte, packte er mit groben Händen die schönste seiner Puppen, warf sie auf seine Werkbank und rief:
     ›Ha, jetzt will ich dir ein Baby machen!‹«
    An dieser Stelle greift die Babka mit ihren Hexenfingern nach der Matrjoschka, die über Jelisaweta auf einem Bord steht, und
     hebt sie drohend in die Höhe.
    »Die Puppe, die er aus dem Schlaf gerissen hatte, sperrte die Augen auf und flehte ihn an: ›Bitte, bitte, nein, verschone
     mich, sieh doch, es gibt so viele von meiner Sorte, nimm dir eine andere.‹
    Der Puppenschnitzer aber hatte schon sein Messer gezückt, schärfte es an einem Lederriemen und lachte laut auf, dass man die
     faulen Zähne in seinem Mund sehen konnte. ›Ich nehme aber dich, los, zier dich nicht so!‹
    Die Puppe sah das Messer, wollte schreien, aber sie wusste, dass ihn das nur noch böser gemacht hätte – also schwieg sie,
     lag hilflos auf dem Rücken, zitterte ein wenig und hoffte, dass er von ihr ablassen würde, wenn sie nur still bliebe. Doch
     sie hatte sich verrechnet, denn mit grimmigem Ausdruck im Gesicht packte er sie noch fester, drückte ihr beinahe die Gurgel
     zu und stieß ihr das Messer in den Leib.«
    Jetzt fährt Babkas Hand über die Puppe, Jelisaweta zuckt zusammen und

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