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Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

Titel: Magnolienschlaf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Baronsky
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schlingt unwillkürlich die Arme um ihren Bauch. Die
     Stimme der Babka wird immer lauter.
    »Die Puppe schrie vor Schmerz, aber das half nichts. Immer wieder rammte der Schnitzer der armen Puppe das Messer in den Leib,
     zog es hervor und stach aufs Neue zu. Und mit jedem Schnitt wurde die Puppe hohler und hohler, als risse der Schnitzer alles
     Leben aus ihr heraus. Schließlich wurde sie ohnmächtig vor Angst und Schmerzen. Als sie erwachte, fühlte sie sich leer, doch
     sie spürte auch, dass sich etwas in ihr regte. Sie bestand jetzt aus zwei Hälften und wusste, dass sie nie mehr ganz werden
     konnte, nie mehr. Bald darauf wurde der Puppenschnitzer wach, schraubte die Puppe auseinander und zog das Kind heraus, das
     sie in ihrem Bauch gefühlt hatte. Es war ein kleines Mädchen. Er begaffte es mit der gleichen Gier, mit der er zuvor sie angesehen
     hatte. Dann wankte er aus der Werkstatt.
    Als der Puppenschnitzer wieder einmal zu viel Wodka getrunken hatte, nahm er das Töchterlein, betrachtete es und sprach: ›Auch
     dir mache ich jetzt ein Baby, denn du bist mein.‹
    Der Puppenmutter entfuhr ein stummer Schrei. Da merkte sie, dass sie Angst hatte um das Kleine, und wusste, dass sie es also
     liebhatte. Es sollte nicht dasselbe durchmachen wie sie. Doch es gab kein Entkommen, der Schnitzer packte das kleine Mädchen,
     schnitt ihm mit einem Ratsch den Bauch auf und höhlte es ebenso aus, wie er es bei seiner Mutter getan hatte.«
    »Hör endlich auf mit deinen Schauergeschichten, du erschreckst das Kind«, ruft Mama, die hereingekommen ist und versucht,
     Jelisaweta am Arm aus dem Zimmer zu zerren. Jelisaweta kann aber nicht gehen, ehe die Geschichte zu ihrem ewigen Ende gefunden
     hat.
    »Gar nicht, ich erschrecke mich gar nicht!«
    »Sie soll wissen, wie es ausgeht«, knurrt Babka und schickt Mama mit einer Kopfbewegung aus dem Zimmer. Dann fährt sie fort:
     »Am nächsten Morgen waren sie schon zu dritt, und die größte der Puppen war eine Großmutter geworden. Aber die Gier des Schnitzers
     war längst nicht gestillt. Noch oft trank er Wodka, und die Puppe musste mit ansehen, wie auch ihre Enkelin, deren Tochter
     und auch deren Enkelin das Entsetzliche über sich ergehen lassen mussten. Sogar die sechste und kleinste von ihnen packte
     der böse Puppenschnitzer eines Nachts und schlitzte ihr den Bauch auf.
    Da konnte und wollte die alte Puppe es nicht mehr mit ansehen und ersann eine List: In der folgenden Nacht, als der Schnitzer
     auf seinem Lager schnarchte, griff sie nach dem Pinsel, mit dem er die jüngste zuvor angemalt hatte, tauchte ihn in die schwarze
     Farbe und malte der kleinen Puppe mit zwei winzigen Strichen einen Schnurrbart. Dann schlich sie an ihren Platz zurück und
     sank in einen guten, erleichterten Schlaf.«
    Wie zur Bestätigung drückt ihr die Babka jetzt die Holzpuppe in die Hände. Jelisaweta traut sich nicht, sie auseinanderzunehmen
     und damit zu spielen, wie sie es früher einmal getan hatte, ganz früher, daran erinnert sie sich kaum. Jetzt liegt die Puppe,
     die so viele ist, in Jelisawetas Schoß und droht, sie zu verbrennen.
    »Am nächsten Morgen stand der Puppenschnitzer auf und ließ seinen Blick über das Regal mit den Puppen gleiten. Er stutzte,
     betrachtete stirnrunzelnd das jüngste Kind, das ein kleiner Junge geworden war, stopfte kopfschüttelnd sein Hemd in die Hose
     und machte sich andie Arbeit. Von diesem Tag an tat er keiner der Puppen mehr etwas zuleide.«

Behutsam reibt das Papiertaschentuch unter ihren Mundwinkeln entlang. Wilhelmine schluckt. Saugt die süße Flüssigkeit aus
     dem Zwieback und schluckt.
    »Nein«, sagt sie, »keinen Kakao«, und schüttelt den Kopf und nickt und weiß selbst nicht, ob sie gefragt oder geantwortet
     hat. Und mit dem nächsten Bissen schmeckt es wie damals, als sie den Rest von der Blockschokolade ins heiße Wasser gerieben
     haben. Es war nur noch ein knapper Teelöffel Milchpulver da, den haben sie geteilt. Und Zucker, viel Zucker, drei Löffel voll.
     Und dann haben sie in der Küche gesessen und das heiße, süße Wasser getrunken und sich vorgestellt, wie die dicke Schokolade
     durch die kühle Schlagsahne rinnt, und sich über die Lippen geleckt.
    ›Weißt du, was ich später mache?‹
    Damit hat es jedes Mal begonnen, das Traumspiel. Sie haben sich ausgemalt, was sie tun werden, wenn alles wieder möglich ist.
     Konditern gehen, jede ein großes Stück Torte für sich allein und mit ganz viel Sahne. Und dann

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