Magnus Jonson 02 - Wut
gewirkt hatten.
Das Krankenhaus hieß St. Francis, Magnus’ Onkel Ingvar arbeitete dort als Arzt. Auch hier stiegen Erinnerungen auf. Der Besuch bei Óli. Magnus’ eigener kurzer Aufenthalt wegen eines gebrochenen Arms, vorgeblich, weil er von einer Heumiete gefallen war. All die Lügen. Die Krankenschwester, die ihm nicht geglaubt hatte. Die Angst davor, überführt zu werden.
Magnus zwang sich in die Gegenwart zurück und erkundigte sich in den Büros der örtlichen Fischereigesellschaften. Man kannte Björn Helgason, aber niemand hatte ihn in den letzten Wochen gesehen. Alle waren sich ziemlich sicher, dass er nicht auf einem Schiff aus Stykkishólmur unterwegs war.
Als Magnus am Kai entlangging, überlegte er, was er als Nächstes tun sollte. Er konnte in westlicher Richtung an der Halbinsel entlang über Ólafsvík und Rif zurückfahren und sich dort nach Björn umhören. Er könnte auch direkt nach Hause fahren. Oder …
Oder er konnte Unnur einen Besuch abstatten.
Eigentlich wusste er, dass er diese Entscheidung tief im Innern schon längst getroffen hatte. Das war ein Grund, warum er die weite Strecke zurückgelegt hatte. Deshalb war er nach Stykkishólmur gefahren und nicht nach Ólafsvík. Wem machte er etwas vor? Er war hier, um die Geliebte seines Vaters zu sehen.
Es ist nicht schwer, in einem kleinen isländischen Ort jemanden aufzuspüren. Magnus kehrte ins Fischereibüro zurück, lieh sich das Telefonbuch und schaute unter »U« für Unnur nach – in Island wurde die Bevölkerung unter dem Vornamen aufgeführt.
Sie wohnte in einem feinen weißen Haus oben auf der Klippe mit Blick auf den Hafen, direkt neben der modernen Kirche von Stykkishólmur, einem ganz außergewöhnlichen Bauwerk: eine
Mischung aus einer weißen mexikanischen Rundkirche und einem Raumschiff. Als Magnus in der Nähe lebte, war noch an ihr gebaut worden. Eine Art interplanetarische Rakete, ähnlich der Hallgrímskirkja in Reykjavík, die Magnus zu der Frage veranlasste, ob irgendeine seltsame intergalaktische Theologie die Grundlage für die Bauweise isländischer Kirchen war.
Einige Minuten blieb er vor dem Haus im Wagen sitzen. Vielleicht würde er jetzt endlich etwas besser verstehen, warum sich seine Eltern getrennt hatten. Und ganz vielleicht auch, warum sein Vater umgebracht worden war. Er holte tief Luft, stieg aus und drückte auf die Klingel.
Die Tür wurde von einer grauhaarigen Frau mit blauen Augen, zarten Wangenknochen und einer blassen, durchscheinenden Haut geöffnet. Wenn Unnur so alt war wie Magnus’ Mutter, müsste sie jetzt achtundfünfzig sein, hatte er ausgerechnet. Das kam auch hin, dennoch besaß sie eine besondere Eleganz und Schönheit. Magnus konnte in ihr die Frau erkennen, an die er sich aus seiner Kindheit noch vage erinnerte. Zu ihrer Zeit musste sie umwerfend ausgesehen haben. Zur Zeit von Magnus’ Vater.
»Ja?« Sie lächelte zögernd.
»Unnur?«
»Ja, das bin ich.«
»Würde es dir etwas ausmachen, vielleicht kurz mit mir zu sprechen? Ich bin Magnús Ragnarsson.« Er machte eine kurze Pause, damit sie den Namen verarbeiten konnte. »Ich bin der Sohn von Ragnar Jónsson.«
Kurz wirkte Unnur verwirrt. Dann schürzte sie die Lippen.
»Ja, das würde mir etwas ausmachen«, sagte sie. »Ich möchte nicht mit dir reden.«
»Ich würde gern mit dir über meinen Vater sprechen.«
»Und ich möchte nicht mit dir über ihn reden. Das ist lange her, und es hat nichts mit dir zu tun.«
»Aber sicher hat es was mit mir zu tun«, sagte Magnus. »Ich habe gerade erst von der Affäre erfahren. Das erklärt so einiges
aus meiner Kindheit, was meine Mutter und meinen Vater betrifft. Aber es gibt immer noch vieles, das ich nicht verstehe.«
Die Frau zögerte.
»Ich weiß, dass es unangenehm für dich ist. Das geht mir genauso. Aber du bist der einzige Mensch, der mir helfen kann. Zur Familie meiner Mutter habe ich keinen Kontakt mehr beziehungsweise will man keinen Kontakt zu mir.«
Unnur nickte. »Das wundert mich nicht.« Sie holte tief Luft. »Gut. Aber mein Mann kommt gleich nach Hause. Er arbeitet im Krankenhaus. Wenn er zurückkommt, wechseln wir das Thema, in Ordnung?«
»Ja«, sagte Magnus.
Unnur führte ihn ins Wohnzimmer und verschwand, um Kaffee zu holen. So feindselig sie anfangs auch gewesen war, konnte sie diesen Grundsatz isländischer Gastfreundschaft nicht außer Acht lassen. Magnus sah sich im Raum um. Es war gemütlich, und wie in jedem isländischen Wohnzimmer fand sich
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