Magnus Jonson 02 - Wut
hier das gesamte Arsenal an Familienfotos. An einer Wand stand ein großes Regal mit Büchern in Isländisch, Dänisch und Englisch. Ein Panoramafenster bot einen herrlichen Blick über das graue Wasser von Breiðafjörður mit seinen flachen Inselchen und auf die Silhouette der bergigen Westfjorde auf der anderen Seite.
Unnur nahm einen Stapel Lehrbücher von der Couch, um Platz für Magnus zu schaffen. »Entschuldigung. Marketing.«
Er setzte sich.
»Ich glaube, beinahe könnte ich dich sogar erkennen«, sagte Unnur. »Dein Haar ist ein bisschen dunkler geworden, es war früher richtig rot. Damals musst du sieben oder acht Jahre gewesen sein.«
»Ich kann mich nicht an dich erinnern«, sagte Magnus. »Ich würde mich gern an mehr aus meiner Zeit in Reykjavík erinnern.«
»Bevor alles kaputtging?«, fragte Unnur.
Magnus nickte.
»Gut. Was willst du von mir wissen?«, fragte sie und schenkte Kaffee ein. Ihr Gesicht war fest und entschlossen, fast trotzig.
»Kannst du mir ein bisschen über meine Mutter erzählen?«, fragte Magnus. »Wie sie wirklich war? Ich habe unterschiedliche Erinnerungen an sie. Zum einen die Wärme, das Lachen und die Freude in unserem Haus in Reykjavík. Zum anderen Distanz – wir sahen sie später nicht sehr oft. Mein Bruder und ich wohnten bei meinem Großvater, und sie war meistens in Reykjavík. Damals dachte ich, sie wäre ständig müde; heute bin ich mir ziemlich sicher, dass sie betrunken war.«
Unnur lächelte. »Sie war ein lustiger Mensch. Wirklich sehr lustig. Wir gingen zusammen zur Schule, hier in Stykkishólmur.«
»Da war ich auch«, bemerkte Magnus.
»Es war eine gute Schule«, sagte Unnur. »Ist es immer noch. Ich unterrichte da jetzt, Englisch und Dänisch. Als wir so ungefähr dreizehn waren, wurden wir beste Freundinnen. Margrét war klug. Sie las gern, so wie ich. Und sie war beliebt bei den Jungen. Wir waren einen Sommer zusammen an einer Sprachenschule in Dänemark, das war toll. Wir beschlossen, nach Reykjavík zu gehen und Lehrerinnen zu werden.«
Unnur verlor langsam ihre Vorbehalte. »In Reykjavík schlugen wir so richtig über die Stränge. Wir wohnten zusammen in einer Wohnung in 101, es war super. Wir machten unseren Abschluss und fingen an zwei verschiedenen Schulen in Reykjavík an. Margrét lernte deinen Vater kennen, sie verliebten sich, heirateten, und ich zog aus, um ihm Platz zu machen. Wir verstanden uns sehr gut, wir drei. Wir waren alle eng miteinander befreundet.«
Unnur hielt inne. »Willst du das wirklich alles hören?«, fragte sie Magnus.
»Ja. Und sag mir bitte die Wahrheit, wie unangenehm sie auch sein mag. Jetzt, da ich hier bin, will ich auch alles wissen.«
»Gut. Damals fing deine Mutter an zu trinken. Ich meine, wir tranken alle was, auch wenn es damals eher Hochprozentiges war. Bier durfte in Island noch nicht verkauft werden, und Wein war so gut wie unbekannt. Aber Margrét begann, mehr als wir zu trinken. Damals wusste ich nicht, warum. Sie war nicht unzufrieden mit
ihrem Leben, und bis dahin schien sie auch nicht unglücklich mit Ragnar zu sein.«
»Damals konntest du es dir also nicht erklären?«
»Nein. Seitdem habe ich viel darüber nachgedacht, und vielleicht kenne ich jetzt den Grund.« Unnur atmete tief durch. »Ihr Vater war ein Scheusal. Zu Schulzeiten hatte ich Angst vor ihm, ich hatte immer Angst vor ihm. Und er hatte eine sonderbare Beziehung zu Margrét. Er liebte sie abgöttisch, war dabei aber sehr streng. Er hatte sie psychisch in seiner Gewalt: Deshalb wollte sie nach Reykjavík ziehen, da bin ich mir sicher. Er machte sie psychisch fertig.«
Das wunderte Magnus nicht.
Unnur trank einen Schluck Kaffee. »Egal, dann kamen du und Óli. Meistens ging es deiner Mutter gut, aber wie aus dem Nichts bekam sie Depressionen wegen irgendwas, trank und machte Ragnar das Leben schwer. Sehr schwer.«
Unnur biss sich auf die Lippe. »Und jetzt kommen wir zum schwierigen Teil. Ragnar vertraute sich mir immer wegen Margrét an. Einmal hatten sie sich unglaublich gestritten, weil er nach Amerika gehen wollte. Er hatte einige Jahre ein Forschungsstipendium am MIT gehabt, bevor er deine Mutter kennenlernte, und nun wollte man ihn als Dozent haben. Es war so ein abstruser Zweig der Mathematik, Topologie oder so was?«
»Riemann’sche Flächen.«
»Margrét änderte plötzlich ihre Meinung und wollte ihn nicht mehr begleiten. Es gab einen Riesenkrach. Ragnar und ich tranken was zusammen, und dann, na ja …« Sie
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