Magyria 01 - Das Herz des Schattens
…
Vertrau mir.
» Sie gehört dir, Bruder«, sagte Kunun. »So wie Magyria und Akink dir gehören.«
Atschorek trat zur Seite. Mattim nahm Hannas Hand und führte seine Freundin durch den Hof zum Eingangsgewölbe. Noch bevor die beiden es erreicht hatten, brandete hinter ihnen ungewohnter Lärm auf. Hanna brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Schatten klatschten und stampften, und jemand begann zu rufen: »Mattim, Mattim!«
Es war der Name, der ihre Welt bedeutete, es war der Name, in dessen Rhythmus ihr Herz schlug.
Vertrau mir …
Im Gewölbe schwankte er, wie eine Marionette, deren Fäden jemand durchgeschnitten hatte. Er fiel schwer gegen sie, und sie fing ihn auf, so gut sie konnte. Beide stützten sich an der Wand ab. Hanna schlang die Arme um ihn und hielt ihn fest.
Als das Licht des neuen Tages in den Hof fiel, als es ihn berührte mit einem Hauch von Frühling, trank er an ihrem Hals, von ihrem Blut, als wäre sie der Drache, dessen Blut allein vor der Vernichtung schützen konnte.
Ein Morgen, frostig und doch schon durchdrungen von neuen Ahnungen. Februar. Er strich ihr übers Haar, wartete auf das Erkennen in ihren Augen, die ihm heller vorkamen als sonst, nicht braun, sondern fast golden. Zart und zerbrechlich wirkte Hanna, als sie über den Platz, über die gegenüberliegenden Häuserfronten blickte. Eine Weile starrte sie auf die Uhrzeit, die in grellroten Ziffern über das Werbeband eilte, und ein Beben durchlief sie, das auf ihn übergriff.
»Verzeih mir«, flüsterte er in ihr Haar. Er hätte sie verlieren können. Ja, fast hätte er sie auch verloren. Es war unverzeihlich. Wenn sie es erfuhr, würde sie gehen. Er konnte es ihr nicht verübeln.
»Was? Was soll ich dir verzeihen?«, fragte Hanna. Sie räusperte sich, als müsste sie sich erst an ihre Stimme gewöhnen, als wäre auch die neu an diesem Tag. So, als wären sie beide neugeboren in dieser Nacht. »Dass du gesagt hast, du stündest auf Kununs Seite? Dass du dein Schwert vor ihm niedergelegt hast?« Sie drehte den Kopf und schaute ihn an. Ihre Augen wie Gold, wie Bronze und Honig. Und waren doch gerötet, als hätte das Mädchen die ganze Nacht geweint.
»Du erinnerst dich schnell«, sagte er leise. Er zog sie weiter, fort von Kununs Haus.
»Ja«, flüsterte sie. »Warum sollte ich dir verzeihen, dass
du dein Leben gerettet hast? Nur, um deinen Stolz zu wahren, hättest du sterben sollen? Um deinen Stolz zu wahren, hättest du mir das Herz brechen sollen? Nein, Mattim. Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müsste.«
Er führte sie an den Schaufenstern vorbei. Hier hatten sie gestanden, vor jenem Geschäft, dort hatten sie sich geküsst … Lange schien das her zu sein, sehr lange.
»Ich war die ganze Zeit auf dem Sprung«, sagte der Prinz. »Wenn Atschorek auch nur eine Bewegung gemacht hätte, wäre ich bei dir gewesen. Aber vielleicht hätte ich es nicht geschafft, dich zu retten. Ich habe auf Risiko gesetzt, und du warst mein Einsatz. Wenn ich nur daran denke, was ich da gewagt habe, wird mir ganz schlecht. Die Klinge an deinem Hals … Es tut mir so leid, Hanna.«
Sie blieb stehen und sah ihn an. Ihr dunkles Haar fiel wie ein Schleier über ihre Wangen. Wie müde musste sie sein!
»Ich wusste, mir wird nichts geschehen«, sagte sie. »Ich habe es in deinen Augen gelesen. Und du hattest Recht.«
»Aber ich konnte es nicht wirklich wissen. Ich musste das Spiel mitspielen, und ich musste besser sein als Kunun. Ich musste ihm alles geben, was er wollte, und meine eigenen Karten vor ihm verbergen … und meinen Schatz sicher nach Hause bringen.« Er schaute sie an und spürte, wie ihn zugleich Schmerz und Freude überwältigten. Er konnte nicht vergessen, wie bleich sie gewirkt hatte im gelben Licht der Lampen im Hof, und Atschoreks mordbereites Schwert … und doch loderte die Freude in ihm auf, heller und heißer und strahlender als alles.
»Erklärst du es mir?«, fragte Hanna.
Mattim wollte nicht vom Tod sprechen. Nicht davon, wie nah sie beide ihm gewesen waren. Zuerst er und danach sie, dass er beinahe sein Sterben gegen ihres eingetauscht hätte, sie blind im Vertrauen auf ihn, er wie im Rausch, in seinem wilden Triumph …
Als sie in den Hof gekommen waren, als er Kunun dort
gesehen hatte, königlich unter der Schar seiner Schatten, da hatte er gewusst, dass es alles galt. Sein Bruder verlangte eine Entscheidung von ihm. Kniefall oder trotzige Auflehnung. Leben oder Tod. Da er nun mal nicht
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