Magyria 01 - Das Herz des Schattens
ersten drei Kindern des Lichts.«
»Kunun?«
Sie traten vor das letzte Bild. Der junge Mann war so lebensecht gemalt, dass es den Anschein hatte, als würde er ihnen aus einem kleinen Fenster heraus zulächeln. Ihm schien es nichts auszumachen, gemalt zu werden. Froh und stolz blickte er ihnen entgegen, ein gut aussehender Bursche mit schwarzem Haar und mandelförmigen Augen.
»Das ist mein ältester Bruder? Er wirkt nett.«
»Kunun«, flüsterte der Alte. »Der Jäger. Er war der Erste. Mit ihm hat es angefangen. Der Krieg gegen die Schatten. Das ist der Feind. Mein Vater hat mir das Bild gezeigt. Kunun. Wenn du dem je begegnest, bist du verloren.«
Mattim hatte nie einem Schatten gegenübergestanden. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
»Das ist ihr König«, verriet der Alte. »Er führt die Schatten an. Und die Wölfe. Er hat diesen Krieg entfesselt. Was haben wir uns früher um die Wölfe in den Wäldern geschert? Kunun war der erste Prinz des Lichts, und er ist der furchtbare König der Dunkelheit geworden.«
Das schöne Gesicht des jungen Mannes verriet nichts über das schreckliche Schicksal, das ihn ereilt hatte.
»Er war der erste Schatten?« Gebannt starrte Mattim auf das Bild. »Nur wie …«
»Es gab sie schon immer.« Die leise, raue Stimme des alten Dieners schien von weither zu kommen. »Immer gab es Gerüchte von bösen Wesen, die über die Menschen kamen … ihr Blut saugten … und von den Wölfen, die sie um sich scharten. Außerdem, dass es Wölfe gibt, andere Wölfe, große, gefährliche, die aus einem Menschen ein Wesen ohne Herz machen können …« Er blinzelte ins Licht. »Aber es war so weit weg. Als ich jung war, wer hätte sich da gefürchtet, über die Brücke ans andere Ufer zu gehen? Gelacht hätten wir darüber. Nein, sie waren weit weg, flüchtiger als Nebel, irgendwo in den entlegensten Gegenden Magyrias. Nicht bei uns.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht hier bei uns. - Der König der Schatten. Merk dir diesen Namen. Kunun.« Dann musterte er Mattim unvermittelt und fragte: »Wo ist eigentlich dein Bild? Du bist kein Prinz. Hier hängt kein Bild von dir. Es sind sieben. Sieben Kinder, so verschieden wie die Farben des Regenbogens. Sieben Kinder des Lichts.« Auch das schienen nicht seine eigenen Worte zu sein, sondern die eines anderen, vielleicht eines Liedes. Allerdings musste es ein altes Lied sein, das niemand mehr sang, das der König verboten hatte. Längst gab es keine sieben Kinder des Lichts mehr. Einer nach dem anderen waren sie in der Dunkelheit verschwunden, und niemand sang von ihnen.
Der nächste Satz klang wieder ganz nach dem alten, bärbeißigen Diener: »Und jetzt raus hier, du hast hier nichts verloren!«
»Mein Bild hängt oben in der Galerie.« Sie haben noch ein Kind bekommen, wollte Mattim einwenden, ein achtes, aber er brachte es nicht über die Lippen.
Der Alte schüttelte den Kopf. »Sie kommen alle zu mir nach unten. Die Königin gibt mir die Bilder. Sie sagt, ich soll sie verstecken. Mein Vater hat die ersten Bilder versteckt, jetzt mache ich es. Sie müssen vergessen sein. Die Namen müssen vergessen sein. Sind alle ins Dunkel gegangen. Alle.«
Den Tag verschlief Mattim, halb wachend, halb träumend. Sie kamen zu ihm, seine sieben Geschwister. Runia tanzte lachend vor ihm her. Wilia trug ein Brautkleid und versuchte einen Schleier zu fangen, den der Wind vor ihr hertrug. Wilder stand daneben und sagte immer wieder: Du musst mehr riskieren. Wenn du viel gewinnen willst, musst du alles einsetzen. Nur dann kannst du alles gewinnen.
Bela trug den Waffenrock des Hauptmanns und stampfte mit der Lanze auf den Boden. Kommt! Kommt! Mit undurchdringlichem Lächeln sah der schöne Leander ihnen zu. Beginnen wir die Jagd!, rief Kunun und blies ins Horn.
Etwas zupfte ihn am Ärmel, und Mattim blickte nach unten und sah dort das Kind stehen mit den Zöpfen und dem hellen Gesicht, Atschorek, stumm und wütend.
Was habe ich denn getan?, wollte er rufen. Ich kann nichts dafür, dass ich der Achte bin. Ich kann doch nichts dafür!
» Ich kann nichts dafür«, murmelte er schläfrig. »Nicht meine Schuld. Alle weg. Ich kann doch nicht …«
»Mattim, dein Dienst.«
Er brauchte eine Weile, um zu merken, dass jemand ihn wachrüttelte. Die Königin saß an seinem Bett und zwang ihn, den Traum abzustreifen.
»Mein Schatz, du bist Brückenwächter. Gleich beginnt deine Schicht.«
»Ich hasse diese Brücke«, schimpfte Mattim, als er
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