Magyria 01 - Das Herz des Schattens
konnte doch nicht wissen, dass das Unheil so nahe war.«
»Der Jäger«, sagte die Königin leise. »Er war vollkommen. Alle liebten ihn. Die jungen Herzöge rissen sich darum, ihn auf die Jagd zu begleiten. Jeder wollte sein Freund sein. Er konnte mit allen lachen und jedem, egal, wie alt, Befehle erteilen. Farank dachte daran, abzutreten und ihm den Thron zu überlassen. Er wäre der perfekte König geworden. Du hättest ihn sehen sollen, wie er auf seinem herrlichen Apfelschimmel saß - ein Prinz, dem die Herzen zuflogen. Die Mädchen weinten sich seinetwegen in den Schlaf … Doch dann diese Jagd, von der er nicht wiederkam.«
»Was hat er gejagt?«, fragte Mattim vorsichtig, denn er hatte das Gefühl, jede Unterbrechung konnte seine Mutter zum Verstummen bringen.
»Wölfe«, flüsterte sie. »Zu viele Wölfe in den Wäldern. Gierige, fremde Tiere. Nein, er konnte es nicht wissen, was das für Bestien waren. Überall haben wir ihn gesucht, es war unerklärlich, er war wie vom Erdboden verschluckt. Bis wir begriffen, dass es gefährlich war, ihn zu suchen. Auf viele, die wir nach ihm ausgeschickt hatten, warteten wir vergeblich. Diejenigen, die zurückkamen, berichteten Schreckliches.
Ich sah gestandene Krieger weinen. Sie hatten beobachtet, wie Kunun … Nein, da haben wir aufgehört zu trauern. Aufgehört, diesen Namen auszusprechen.« Sie schüttelte den Kopf. »Und immer mehr Wölfe. Die Wölfe heulten des Nachts, nah wie nie zuvor … Geh zum Dienst, Mattim. Du wirst Ärger bekommen, du bist spät dran. Dein Vater wird dich ganz aus der Wache nehmen, wenn du unzuverlässig bist. Er beobachtet dich zurzeit sehr genau.«
»Das habe ich gemerkt.«
»Er hat Angst um dich. Geh, mein Sohn, schnell. Enttäusch ihn nicht. Bitte.«
»Ich werde euch nicht enttäuschen«, versicherte der Prinz. Er sagte seiner Mutter jedoch nicht, was dieses Versprechen bedeutete, was er vorhatte, was er tun musste, bevor es zu spät war. Der erste Prinz hatte die Vernichtung gebracht. Hatte die glorreiche Zeit des Lichts beendet und halb Magyria verwüstet. Er, der letzte Prinz, hatte die Aufgabe, die Finsternis ein für alle Mal zu besiegen. Er würde Akink ins Licht zurückführen, zurück zu den Festen und Bällen und dem Gesang. Eine Zeit würde anbrechen, in der niemand sich davor fürchtete, allein in den Wald zu gehen. Wo auf der Brücke Gedränge herrschen würde von beladenen Wagen mit Waren aus den nicht länger verlorenen Städten des Ostens und Kutschen voller junger Mädchen auf dem Weg zum Tanz. Während er zum Dienst ging, während er sich Stunde um Stunde die Beine in den Bauch stand, träumte er von der Welt, wie sie sein würde, wenn er getan hatte, wozu er geboren war.
SECHS
BUDAPEST, UNGARN
Hanna hatte Attila zur Schule gebracht, nun gehörte das Haus ihr. Der Sprachkurs war am Dienstag, heute konnte sie tun, was sie wollte. Vielleicht mal wieder joggen gehen? Sie vermisste die Bewegung jetzt schon, obwohl sie erst seit einem halben Jahr regelmäßig lief.
Als sie die Treppe hochgehen wollte, um sich umzuziehen, erstarrte sie. Was waren das für Geräusche? Außer ihr war niemand da. Ferenc und Mónika waren arbeiten, die Kinder in der Schule. Ein Einbrecher? Sie wartete, bis ihr flatterndes Herz sich beruhigt hatte.
»Unsinn«, sagte sie zu sich selbst. »Du kennst dich hier noch nicht aus. Dafür gibt es eine Erklärung.«
Auf leisen Sohlen schlich sie die Stufen wieder hinunter und lugte um die Ecke ins Wohnzimmer.
Eine junge Frau in ihrem Alter wischte gerade den Couchtisch ab und legte die Zeitschriften mit etwas mehr Nachdruck als nötig wieder darauf ab. Aus jeder ihrer Bewegungen sprach ein ungeheurer Ärger.
Plötzlich hob sie den Kopf und sah Hanna an der Tür stehen. Sie zischte etwas auf Ungarisch, schüttelte dann den Kopf und putzte wütend weiter.
»Ich dachte, die Putzfrau kommt nicht mehr«, murmelte Hanna und fühlte sich reingelegt; Mónika hätte ihr ruhig sagen können, dass sie wieder jemanden eingestellt hatte.
»Ich bin nicht die Putzfrau«, erwiderte die Ungarin ärgerlich auf Deutsch.
»Wer bist du dann?«, fragte Hanna überrascht.
»Das ist meine Oma.« Sie hatte sichtlich Mühe mit der Sprache und wechselte ins Englische. »Meine Oma putzt hier. Sie will eigentlich nicht mehr, aber sie braucht das Geld.«
»Deshalb bist du gekommen?«
»Meine Mutter hat mich hergeschickt«, erklärte die Angesprochene unzufrieden.
Hanna machte ein paar Schritte auf sie zu. »Ich bin
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