Magyria 01 - Das Herz des Schattens
ganze Stadt haben sie geschmückt, und einen Prinzen hatten sie auch für sie ausgesucht. Aber die Biester haben sie erwischt, auf dem Weg hierher.«
»Eines verstehe ich nicht«, meinte Mattim, »wenn die Wölfe auf diese Seite kommen und jemanden beißen, wird er ein Schatten. Das ist klar. Nur wie kann er mit ihnen zurück? Die Wölfe schwimmen über den Fluss, doch der Schatten kann ihnen nicht folgen. Wie ist Wilder auf die andere Seite gelangt, nachdem sie ihn gebissen hatten? Er wird wohl kaum über die Brücke gegangen sein. Oder - Atschorek.« Der Name klang noch fremd. »Was haben sie davon, wenn sie jemanden irgendwo im Hinterland beißen? Sie müssten ihre Opfer dort lassen, oder? Ich glaube nicht, dass es auf unserer Akinker Seite von Schatten wimmelt. Sie sind immer dort drüben, im Wald.«
»Eh, du bist schlau. Sehr schlau, mein Junge. Aber die Schatten sind nicht dumm. Wilder haben die Wölfe nicht hier gebissen, sie haben ihn über den Fluss gezogen. Haben ihn mit ins Wasser genommen. Vielleicht ist er auch ertrunken, weiß man’s? Atschorek dagegen ist nicht im Hinterland geblieben, sondern hergekommen. Hier befindet sich die einzige Brücke. Sie musste herkommen. Sie kam nach Akink und war ein Schatten. Nur leider hat es niemand gemerkt.«
»Ein Schatten? Hier in Akink?« Es lief Mattim kalt den Rücken hinunter. »Und das wusste keiner?«
»Man hat sie nicht untersucht, verstehst du? Atschorek zog hier ein mit ihrem Gefolge, die ganze Stadt am Jubeln. Aber sie kam nachts. Das hätte uns stutzig machen müssen. Es war nachts, ja, und sie wusste natürlich, dass sie
nur diese eine Nacht hatte. Sie ist in die Stadt gefahren mit ihrer schönen Kutsche und den Pferden. Der König und die Königin haben gewartet, in der Burg. Doch ein Schatten kann sich dem Licht nicht nähern. Sie hat’s gewusst, es wäre ihr Ende gewesen. Ist einfach mit der Kutsche durch ganz Akink gefahren, auf die Brücke zu. Da waren natürlich alle verwirrt. Wo will sie hin? Den Fluss sehen? Ja, so hieß es. Sie will den Fluss sehen, hat lange davon geträumt oder was auch immer.«
»Sie haben sie durchgelassen? Die Brückenwächter?«
»Die Kutsche der Prinzessin. Ja, zuerst. Dann haben sie gemerkt, dass da was nicht stimmte, haben deine Schwester angehalten. Sie hat sich dann den Weg freigekämpft. Hat gekämpft wie eine Wahnsinnige, das letzte Stück bis auf die andere Seite. Hat ein paar Leute gebissen und sie in Wölfe verwandelt, und damit war es ja klar, was sie war. Da gab es natürlich keine Feier zu Atschoreks Ehren.«
Mattim empfand widerwillige Bewunderung für diese fremde Schwester, die ihr Leben - das, was davon übrig war - durch die ganze Stadt und über die Brücke hinweg gerettet hatte. Was für eine Stärke musste allein schon dazu gehören, sich nichts anmerken zu lassen, nachdem sie gebissen worden war, damit ihre Begleiter nichts davon mitbekamen!
»Das ist Bela. Der war ein ganz Ruhiger. Immer verlässlich. War Hauptmann der Nachtpatrouille, da war er erst dreizehn. Nie leichtsinnig. Erwischt haben sie ihn trotzdem.«
»Mit dreizehn war er schon Hauptmann?« Eifersüchtig betrachtete Mattim das Gesicht des unbekannten Bruders. Der Maler hatte dem schwarzhaarigen Jungen den gelangweilten Ausdruck gelassen, der vermutlich typisch für ihn war.
»Runia. Ich glaube, sie war Bogenschützin. Sie hat getanzt, das weiß ich noch, und jeder war in sie verliebt.«
Das schmale Gesicht seiner Schwester verriet nichts von ihren Vorlieben. Sie war nicht einmal richtig hübsch.
»Wie haben die Wölfe sie gekriegt?«
»Im Wald. Unterwegs zu einem Dorffest. Der König hat gesagt, sie soll nicht hingehen, und die Königin hatte Angst, sie könnte sich mit jemandem treffen, der nicht zur Familie passt. Sie ist trotzdem gegangen. Noch dazu allein. Dachte, sie wäre Wunder was für eine gute Schützin.«
Der Alte hielt die Lampe vor das vorletzte Bild.
»Das ist Leander. Den habe ich nicht mehr kennengelernt. Es hieß, wenn er an sein Fenster trat, blühten die Bäume im Palastgarten auf.«
»Das klingt etwas übertrieben.« Leander war ein blonder Junge mit einem einnehmenden Lächeln. Von allen Geschwistern entdeckte Mattim bei ihm noch am ehesten eine Ähnlichkeit mit sich selbst.
»Oh, man hat viel über sie gesagt. Auch über die anderen. Wenn Wilia sang, erwachten die Vögel aus ihrem Schlaf und kamen alle zu ihr. Wenn Kunun lächelte, hatte jeder in Akink einen glücklichen Tag. So heißt es von den
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