Magyria 01 - Das Herz des Schattens
sich
aus dem Bett quälte. Sein Rücken schmerzte immer noch. Er unterdrückte ein Stöhnen, während er sich hinter dem Paravent wusch und anzog. Seine Mutter wartete; auf keinen Fall durfte sie wissen, dass er Schmerzen hatte. Vielleicht hatte es die Brücke nicht verdient, dass er seinen Zorn darüber an ihr ausließ, aber irgendetwas musste er gerade jetzt hassen. »Warum haben wir sie nicht längst abgerissen? Dann könnte keiner der Schatten je herüberkommen.«
»Was redest du denn da!«, rief die Königin entsetzt. »Du würdest unsere Brücke abreißen? Was ist mit den Dörfern und Städten im Osten? Würdest du halb Magyria aufgeben, nur damit du nicht auf der Brücke stehen und Wache halten musst?«
»Halb Magyria gehört schon den Schatten.« Er war nicht gewillt, sich besänftigen zu lassen. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass die Wunden so juckten und brannten, doch alles wäre viel einfacher gewesen, wenn er jemanden hätte bitten können, sich die Kratzer anzusehen, vielleicht eine Salbe draufzutun und ihm beim Ankleiden zu helfen. Es war ihm fast unmöglich, die Arme zu heben. »Außerdem könnte man mit Booten übersetzen, wenn man nach drüben will.«
»Mit Pferden und Wagen? Ach, Mattim, das Leben ist nicht so leicht, wie du denkst. Unser Königreich besteht nicht nur aus Akink. Wir sind für ganz Magyria verantwortlich. Diese Brücke ist mehr als ein Übergang in den Osten. Sie ist ein Symbol, die Verbindung der beiden Teile dieses Landes. Akink ist die Hauptstadt für alle Magyrianer. Du hast jene Zeit nicht miterlebt, als der Handel mit den östlichen Städten noch blühte, als die Wege durch den Wald Tag und Nacht befahren waren, als Gäste Akink von allen Seiten beehrten, als Kauf- und Spielleute, Reisende aus dem ganzen Land herkamen, um dem Licht nahe zu sein. Was für Feste haben wir in unserer Burg gefeiert! Der königliche Ball war das Ereignis des Jahres, und von allen Ecken
und Enden sind sie gekommen, um daran teilzunehmen. Jedes junge Mädchen hat davon geträumt. Oder der große Markt, auf dem man kaufen konnte, was das Herz begehrte. Die große Jagd, auf der die Herzöge dem König ihre Söhne vorgestellt haben … Mein Junge, diese Brücke ist mehr als eine Brücke. Sie ist eine Zeit, die wir zurückhaben wollen und die du nie erlebt hast, die strahlende Zeit des Lichts. Nie im Leben geben wir sie auf, und selbst wenn du König bist, darfst du das nicht tun. Es wäre das Eingeständnis unserer Niederlage. Wie könnte das Licht leuchten, wenn es zugibt, dass es bereits besiegt ist?«
»Die große Jagd«, murmelte er. »Erst wurden die Tiere gejagt und dann die Menschen?«
Er kam gerade rechtzeitig hinter dem Paravent hervor, um zu sehen, wie die Königin erbleichte.
»Warum sprecht ihr nie darüber, wie es angefangen hat?«, wollte Mattim wissen. »Warum redet ihr immer nur über die Schatten und die Dunkelheit, nicht aber über meine - Geschwister?«
»Es gibt Dinge, über die kann man nicht sprechen«, flüsterte die Königin.
»Ich hätte sie gerne gekannt«, sagte er. »Wie sie waren, wie sie aussahen, wie …«
»Still!«, unterbrach ihn seine Mutter. »Sei still, Mattim. Du hast keine Geschwister. Es hat sie nie gegeben. Man muss - man muss daran glauben, dass es sie nie gegeben hat. Wie könnte man sonst ertragen, dass …«
»Wirst du über mich auch so reden?«, fragte er bitter, »wenn ich euch verlorengehe?«
Die Königin schlang die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Obwohl der Schmerz in seinem Rücken ihm die Tränen in die Augen trieb, hielt er still. »Du wirst uns nicht verlorengehen! Du nicht!«
»Vielleicht würde es mir helfen, wenn ich wüsste, was die anderen falsch gemacht haben.«
Elira schwieg eine Weile. »Sie waren leichtsinnig«, sagte sie schließlich. »Das ist das ganze Geheimnis. Sie haben sich zu viel zugetraut. Alle dachten sie, ihnen könnte so etwas nicht passieren. Außerdem fühlten sie sich zu sicher. Deshalb darfst du nie glauben, du könntest es mit den Schatten aufnehmen. So gut du auch kämpfst, so schlau du dich auch fühlst, deine Gegner werden schlauer und stärker sein als du. Abgesehen davon ist es nicht gut, wenn du zu viel über die Schatten nachdenkst. Selbst das ist gefährlich. Auch Bela fing an, Fragen zu stellen, bevor er …«
Sie biss sich auf die Lippen.
»Und der Erste - war er auch leichtsinnig? Der Jäger?« Mattim wollte nicht verraten, dass er den Namen des ersten Prinzen kannte. »Er
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